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Kryson 04 - Das verlorene Volk

Titel: Kryson 04 - Das verlorene Volk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Rümmelein
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Formalien der Urteilsverkündung eingehalten worden waren. Sie begann den Kern des Urteils vorzulesen. Ihre Stimme zitterte und drohte zu versagen, als sie das Urteil las und allmählich Wort für Wort zu verstehen begann, was es für sie bedeutete. Vier Vorwürfe waren erhoben worden. Drei Vergehen und ein Verbrechen. Die Vorwürfe der Untreue gegen den Orden und ihre Verweigerung, das heilige Band der Orna und der Bewahrer mit Chromlion zu knüpfen, sollte mit Stockschlägen geahndet werden. Zwanzig an der Zahl hatten die heilige Mutter und die Bewahrer ihr für ihre Vergehen zugedacht. Doch als Werkzeug der Bestrafung sollte der Richtstab des hohen Gerichts eingesetzt werden. Eine schwere eiserne Stange, deren Ende mit einem hölzernen Knauf versehen war. Aber es kam noch schlimmer. Sie atmete tief durch, um sich zu sammeln. Von einer Bestrafung für das unerlaubte Verlassen des Ordenshauses hatte die heilige Mutter abgesehen. Elischas Augen wanderten weiter über den Text. Sie zögerte, als sie zu der Passage kam, welche die Bestrafung für das Verbrechen der Unzucht mit einem Bewahrer vorsah. Ayale hatte sie davor gewarnt. Das Gericht sah die Geißelung dafür vor. Dreißig Hiebe mit derGeißel der Orna. Und sie würde die Tortur entblößt und an die Richtpfähle vor dem Haus der heiligen Mutter gekettet unter den Augen ihrer Schwestern und den Bewahrern überstehen müssen. Elischa wurde schmerzlich bewusst, dass man sie gedemütigt und blutend sehen wollte. Das war zu viel. Die letzten Zeilen, in denen das Gericht ihre Wiederaufnahme in den Orden nach der Vollstreckung des Urteils begrüßte und ihr zusicherte, dass niemand sie jemals wieder wegen der zur Verurteilung gebrachten Regelverstöße anklagen oder künftig benachteiligen durfte, nahm sie nicht mehr bewusst war. Die Vergehen und das Verbrechen sollten nach der Bestrafung gesühnt sein. Ein schwacher Trost, der ihr wie bittere Ironie vorkam. Sie ließ die Schriftrolle fallen und nahm ihre Hände vors Gesicht.
    »Ich hätte es wissen müssen und niemals in den Orden zurückkehren dürfen«, ging es ihr durch den Kopf. »Eine Abtrünnige wird nicht geduldet. Der Orden will mich zerstören.«
    Elischas Knie wurden weich. Sie musste sich setzen. Das Urteil traf sie hart. Mit den Schlägen brachen ihr die Vollstrecker womöglich sämtliche Knochen im Leib. Sie wäre vom Glück gesegnet, wenn sie ihr nicht das Rückgrat zerschlugen. Die Geißel der Orna würde ihr die Haut bis auf die Knochen in Fetzen vom Rücken reißen. Die Orna schauderte bei der Vorstellung.
    »Das überlebe ich nicht«, dachte sie fassungslos bei sich, »ich habe mich also für die Schatten entschieden, als ich eine Rückkehr in den Orden als meine Bestimmung ansah und Madhrab verließ.«
    Ob sie sich jemals von der Bestrafung würde erholen können, wussten nicht einmal die Kojos oder die Schatten selbst.
    »Das ist ein Todesurteil«, flüsterte Elischa mit gesenktem Haupt an die heilige Mutter gerichtet.
    Elischa wagte es nicht, der Sterbenden in die Augen zu sehen.
    »Nein, nicht wenn du dich als stark erweisen wirst«, erwiderte Hegoria. »Die Schatten werden kommen und sie werden dich belauern, so wie sie im Augenblick in meiner Kammer gegenwärtig sind. Dessen bin ich mir sicher. Wir werden uns danach bestens um dein Wohl sorgen und dich wieder gesund pflegen, Elischa. Ayale wird ihr Bestes geben. Darauf kannst du dich verlassen. Die Schatten sollen dich nicht bekommen. Noch nicht! Aber ich muss dich fragen, ob du das Urteil annimmst.«
    Elischa hob den Kopf und sah zu Hegoria hinüber, um zu ergründen, was die heilige Mutter von ihr erwartete. Ein Opfer, um in den Schoß der Mutter und des Hauses zurückkehren zu dürfen? War dies die Prüfung, welche die Ernsthaftigkeit ihres Entschlusses beweisen sollte? Hätte Hegoria das Urteil angenommen, wäre sie an Elischas Stelle? Wie sie so krank in ihrem Bett lag, wirkte sie schwach und gebrechlich. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie nicht einen starken Willen und den Mut aufbringen würde, alles für den Orden zu geben. Sie musste ihr die Frage stellen.
    »Würdest du das Urteil an meiner Stelle annehmen?«
    »Glaubst du an unseren Orden, die Pflichten und Bürden, die uns Ulljans Erbe auferlegt? Stehst du hinter den Regeln und Traditionen der Orna? Hast du den heiligen Eid mit Freude in deinem Herzen abgelegt, nachdem du die Prüfungen bestanden hattest? Bist du davon überzeugt, dass die Magie der Orna stark und das Heilen

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