Kryson 04 - Das verlorene Volk
deine Bestimmung ist? Ist der Orden dein Zuhause?«
»Natürlich«, antwortete Elischa, »aber du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Sicher«, die heilige Mutter klang ermattet, »ich glaube an all das, was ich dich gefragt habe. Der Orden der Orna ist und war mein Leben. Ich sterbe für den Orden und an deiner Stelle würde ich das Urteil annehmen. Ja.«
»Dann akzeptiere ich das Urteil. Wäre es doch nur schon überstanden«, meinte Elischa.
»Das wünschte ich auch«, seufzte Hegoria, erschöpft und doch erleichtert auf ihr Lager zurücksinkend.
Elischa standen Tränen in den Augen und sie hatte Angst. Große Angst vor dem, was sie schon bald erwartete.
»Geh noch einmal zum Tisch und nimm die Phiole an dich«, befahl die heilige Mutter.
Elischa wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihres Gewandes aus dem Gesicht und tat wie ihr geheißen. Der kunstvoll geschliffene Glasbehälter war ihr bereits aufgefallen, als sie die Schriftrolle vom Tisch genommen hatte. Durch das Glas der durchsichtigen Phiole schimmerte eine dunkle, ölige Flüssigkeit. Sie öffnete den Verschluss und schnupperte daran. Ein fürchterlicher stechender Gestank stieg ihr in die Nase.
»Was ist das?«, wollte sie wissen.
»Eine Essenz zur Stärkung«, erklärte die heilige Mutter, »sie stinkt erbärmlich. Aber ihre Wirkung ist enorm. Die Zusammensetzung ist geheim. Ich weiß nicht, woraus sie besteht. Ayale mischte und gab sie mir, um mich bis zu deiner Rückkehr in unser Haus am Leben zu erhalten und vor dem Reich der Schatten zu schützen. Aber sie warnte mich vor den Giften, die der Essenz beigemischt wurden. Solange sie wirkt, werden die Schatten in Zaum gehalten. Sie wagen es nicht, sich dir zu nähern. Du fühlst dich für wenige Horas stärker, wenn du einen Tropfen davon zu dir nimmst. Allerdings hat die Essenz auch ihre Nachteile. Sie macht dich abhängig. Zu viel und zu lange davon erzürnt die Schatten und bringt dich ihnen näher, statt sie weiterhin fernzuhalten. Sie stürzen sich nach einer Weile auf dich und zerren dich mit Gewalt in ihr Reich. Außerdem nimmst du die Schmerzen viel stärker wahr.
Die Krankheit, die meinen Körper schwächt, zerfrisst mich von innen. Die Schmerzen waren immer spürbar und siequälen mich. Dennoch habe ich sie ausgehalten. Irgendwie. Unter der Wirkung der Essenz jedoch hatte ich das Gefühl, als müsste ich verbrennen. Wieder und wieder, gerade so, als ob ich in den Flammen der Pein schmoren müsste. Ein Vorgeschmack auf das, was dich bei den Schatten erwartet, wenn du zu viel davon kostest. Es war furchtbar. Wende sie mit Bedacht an, Elischa. Ein einziges Mal nur, am Morgen bevor die Strafe vollstreckt wird.«
Elischa verschloss die Phiole und verstaute sie in der Innentasche ihres Gewandes. Sie war nicht sicher, ob sie sich den Gefahren der Essenz aussetzen sollte. Vielleicht konnte sie Ayales Rat einholen, erhielte sie vor der Vollstreckung Gelegenheit dazu. Viel Zeit blieb ihr dafür jedoch nicht.
»Komm bitte näher, Elischa«, bat Hegoria, »das Reden strengt mich an. Aber ich muss die mir verbliebenen Kräfte sammeln und dir erzählen, was mich bedrückt und warum wir dich in den Orden zurückriefen.«
Elischa hatte Mühe, den Worten der heiligen Mutter zu folgen. Ihre Gedanken weilten woanders; sie überlegte sich Strategien, wie sie die Bestrafung am nächsten Morgen überstehen konnte. Aber nichts Vernünftiges wollte ihr einfallen. Ihr Kopf war wie benebelt und sie glaubte sich in einem Traum zu befinden, aus dem es entweder kein Entrinnen oder nur ein böses Erwachen gab. Aber es war kein Traum, dies war die Wirklichkeit und die hatte sie selbst aus freien Stücken gewählt.
»Seit Yilassa die Führung über das Haus des hohen Vaters übernommen hat, wurde kein einziges Band mehr zwischen den Orna und den Bewahrern geknüpft«, führte die heilige Mutter aus. »Vieles hat sich seitdem verändert. Die Ordensschwestern haben sich in zwei Lager gespalten. Die einen glauben, unsere Pflichten seien längst erfüllt. Die Regeln überholt. Ulljans Erbe sei längst angetreten. Sie begründen ihre Einstellung mit der Geburt der Lesvaraq. Aber sie wollen nicht verstehen, dasswir Teil des Gleichgewichts sind und Ulljan den Orden nicht ins Leben gerufen hat, um Schriftrollen zu verwahren, unsere Heilkräfte einzusetzen und Aufzeichnungen anzufertigen. Die Wahrung seines Erbes geht weit darüber hinaus. Er gab uns einen Teil der Macht und die Magie der Orna, um einen Ausgleich
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