Kryson 04 - Das verlorene Volk
Zwillinge haben bekanntlich einen herausragenden Instinkt für Gefahren. Und wenn du mich fragst, hier stinkt es gewaltig«, meinte Foljatin.
»Dann solltet ihr meine Leibwächter sein und die Kammer ordentlich lüften, damit der Gestank entweichen kann«, brummte Madhrab schmunzelnd.
»Foljatin spricht wahr«, bestätigte Hardrab seinen Bruder, »glaub uns. Hier ist es nicht geheuer. In den Fluren des Palastes schleichen Schatten umher. Mit eigenen Augen habe ich einen von ihnen gesehen. An Wänden und Türen wird gelauscht. Intrigen werden gesponnen. Es wird gelogen und betrogen. Ich hatte sogar den Eindruck, ein stetes Flüstern zu hören, das aus Wänden und Boden drang und versuchte,meinen Geist mit wirren Bildern und Botschaften zu vergiften. Boshaft. Verstanden habe ich nichts. Aber wer weiß, welche dunklen Beschwörungen und Flüche die Praister bei ihrem Auszug aus dem Palast zurückgelassen haben. Womöglich war es Glück, das Flüstern nicht verstehen zu können. Die Tempelanlagen und Stockwerke sind reichlich verzweigt und reichen bis weit unter die Oberfläche.«
»Ihr beiden solltet Ammen werden und den Kindern Geschichten erzählen. Aber ich glaube, ich habe einfach zu viel von euch verlangt und euch zu lange in den Grenzlanden leiden lassen. Ihr seht schon Gespenster. Das habe ich nun davon. Es tut mir leid«, Madhrab klang betrübt, »aber was habe ich zu verlieren? Seht mich an. Ich bin ein alter Mann, auf der Suche nach seinem verlorenen Leben. Wohl wissend, dass ich es nicht finde. Wäre ich dem Orden treu geblieben, stünde ich auf dem Sprung zum Letztgänger. Mir bliebe nicht mehr viel Zeit, den Bewahrern zu dienen und meinem Leben einen tieferen Sinn und Erfüllung zu geben. Vielleicht wäre ich Overlord. Wer weiß? Aber ich will ehrlich zu euch sein. Ich wäre der Stellung nicht gewachsen. Ein Overlord darf nur dem Orden verbunden sein und dessen Stärke im Sinn haben. Ich jedoch war stets zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Meine Eitelkeit blendete mich. Ich verriet meinen Sohn, verlor meine Liebe, meine besten Freunde und am Ende mein eigenes Leben. Ob ich heute zu den Schatten gehe oder wenig später. Es macht keinen Unterschied. Ich habe versagt und bin müde. Die Regentschaft ist meine letzte Gelegenheit auf Wiedergutmachung.«
Foljatin sah seinem Bruder verzweifelt in die Augen und zuckte schließlich resignierend mit den Schultern, als dieser lediglich seufzend den Blick abwandte. Sie ahnten, es hatte keinen Zweck. Madhrab war stur. Solange sie ihn kannten, war er nie anders gewesen. Er würde sich von ihnen nicht zurVorsicht ermahnen lassen und seinen Weg gehen, wie er es immer getan hatte. Sein Entschluss, die Regentschaft anzutreten, stand fest. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als seine Entscheidung und Entschlossenheit als ihre eigene anzunehmen. Sie würden ihn vor Unheil schützen müssen, wenn er es nicht selbst tat. Das war ihre Aufgabe, die ihnen Gwantharab schon bei ihrer Geburt zugedacht hatte. Sicher würden sie bald Gelegenheit dazu erhalten.
Der Feind
M oyin bestand aus dreiundvierzig Wohnhütten und zwei größeren Gehöften. Kaum jemand hatte je diesem beschaulichen Dorf am Rande des Vulkangebietes, das unmittelbar an den südlichen Rand des Faraghad-Waldes grenzte, Beachtung geschenkt. Selbst die Steuereintreiber des Fürsten hatten Moyin des Öfteren übersehen. Vielleicht, weil sich die Reise für die Würdenträger des Fürstenhauses Otevour einfach nicht lohnte.
Die Klan in Moyin trieben nur selten Handel, und wenn, dann tauschten sie Nahrung gegen das Notwendigste, was sie darüber hinaus brauchten. In einiger Entfernung, mit dem bloßen Auge gut zu erkennen, ragte Tartatuk mit seinen schwarzen Hängen aus Lava in die Höhe. Ein mächtiger Vulkankrater, der seine Spitze meist in dichte Rauchschwaden gehüllt hielt, die durch das nie erloschene Feuer in seinem Inneren rot zu glühen schienen. An manchen Tagen wie diesem vertrieb der Wind den Rauch und gab den Blick auf den Feuer speienden Berg frei. Ein seltener Anblick, denn die meiste Zeit versteckte er sein restliches Antlitz im Nebel. Als ob er sich zierte, seine Pracht zu zeigen. Einhundertzweiundfünfzig Klan lebten in Moyin, darunter befanden sich neunundvierzig Kinder. Das jüngste Kind, ein Mädchen, war gerade erst einige Horas alt und trug noch keinen Namen.
Die schlichten Häuser waren aus Lehm gebaut, ihre Dächer mit Stroh gedeckt, wohingegen die beiden Gehöfte etwas abgesetzt am Rand
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