Kryson 04 - Das verlorene Volk
des Dorfes lagen und aus Lavastein und Holz errichtet worden waren.
Unbefangen spielten die Kinder in den Gassen des Dorfes, während sie von einem einbeinigen, älteren Klan beobachtet wurden. Der alte Mann hatte sich, den Krückstock neben sichlehnend, auf einen breiten, abgesägten Baumstumpf niedergelassen, der zu einem Sessel umgearbeitet worden war.
»Großvater«, rief ein Junge mit klarer Stimme, der aussah, als ob er die fünfte Sonnenwende gerade eben hinter sich gebracht hätte, »spielst du mit uns Sonnenreiter und Dämonen?«
Der Großvater winkte den Jungen mit einer Hand zu sich, während er mit der anderen eine Maispfeife aus seiner Jackentasche kramte. Er wurde inzwischen so oft Großvater gerufen, dass er sich kaum noch an seinen richtigen Namen erinnern konnte. Alrab. Aber wie er früher gerufen worden war, hatte keine Bedeutung mehr für ihn. Vielleicht würde sich eines Tages, wenn er längst zu den Schatten gegangen war, jemand an den einbeinigen Veteranen erinnern, der in der Schlacht am Rayhin für den Bewahrer des Nordens um das Überleben seines Volkes gekämpft hatte und dabei schwer verletzt worden war. Eine Chimäre hatte ihm das Bein mit bloßen Klauen abgerissen. Er wäre fast verblutet und hatte während des anschließenden Fiebers schon die auf seine Seele lauernden Schatten erblickt. Aber er hatte gekämpft, durchgehalten und überlebt.
An warmen und schönen Tagen wie diesem saß er des Öfteren an diesem Ort, sah den Kindern beim Spiel zu und schmauchte ein Pfeifchen dazu. Die Kräuter pflanzte, erntete und trocknete er selbst, um sie in seiner Pfeife rauchen zu können. Brennend verströmten sie einen süßlichen Geruch nach Honig und Kuchengewürzen.
Er liebte all seine Enkelkinder und bemühte sich, sie tunlichst gleich zu behandeln. Immerhin hatte er fünf Enkel. Eine wahre Freude, nachdem das Leben lange nur aus Krankheit, Tod und Verderben bestanden hatte. Doch dieser rothaarige, quirlige Junge, dessen Gesicht mit Sommersprossen übersät war, rührte sein Herz jeden Tag aufs Neue. Die strahlend blauen Augen und das kupferrote, schulterlange und dichte Haarerinnerten ihn an seine längst verstorbene Frau, die nur wenige Monde nach der Schlacht am Rayhin an der Geißel der Schatten gestorben war. Und das war ein milder Ausdruck für das, was sie hatte erleiden müssen .
»Sie ist elendig verreckt!« , dachte Arlab verbittert bei sich.
Ein Druck legte sich auf sein Herz, wenn er an die Vergangenheit dachte. Er erinnerte sich nicht gerne daran, denn die Bilder des Schreckens saßen tief und er hatte sie über all die Sonnenwenden nicht vergessen. Weder den Krieg noch die Seuche. Wie gerne hätte er seine Frau in seinen Gedanken so bewahrt, wie sie sich kennen- und lieben gelernt hatten. Aber das gelang ihm nicht. Dachte er gelegentlich an sie, dann sah er nur ihre Qual und das von Krankheit und Wahnsinn verzerrte Gesicht vor sich. Drauf und dran, sie von ihrem Schicksal zu erlösen, waren ihm die Schatten schließlich zuvorgekommen.
»Was ist das für ein Spiel, Neslab?«, fragte der Alte.
»Du bist der Richter«, erklärte Neslab, »und musst aufpassen. Jala, Pardrab und ich sind Sonnenreiter. Aber wir haben keine Pferde. Nur unsere Stöcke. Niana, Horlab und Kiolab sind unsere Freunde. Die übrigen Kinder spielen Feind. Die haben auch nichts.«
»Das hört sich nach einem sehr dummen Spiel für mich an«, brummte der Großvater. »Ihr Kinder wollt doch nicht etwa Krieg spielen?«
»Was ist das?«
»Krieg?« Der Großvater zog überrascht die Augenbrauen hoch.
Offenbar war er von sich selbst ausgegangen und hatte vergessen, dass Neslab in seinem Leben niemals eine kriegerische Auseinandersetzung gesehen, geschweige denn davon gehört hatte. In Moyin wurde nicht vom Krieg gesprochen. Niemals. Selbst das Wort durfte nicht benutzt werden.
Die Älteren, die den Krieg gegen die Rachuren miteigenen Augen gesehen hatten, schwiegen, als hätten sie ein Abkommen im Geheimen getroffen. Der Versprecher war ihm peinlich. Er kannte seinen Enkelsohn gut. Der Junge war aufgeweckt und neugierig. Er würde nicht lockerlassen, bis Alrab ihm erklärt hatte, was Krieg bedeutete.
»Weißt du …«, setzte der Großvater mit einem Seufzer an.
»Warte«, sagte der kleine Junge, »die anderen möchten dir auch zuhören.«
»Nein, das geht nicht«, widersprach Alrab.
»Großvater, bitte!«
Neslab sah Alrab mit großen treuherzigen Augen an, denen kaum jemand widerstehen konnte. Der
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