Kryson 04 - Das verlorene Volk
hätte er ihr Verhalten als zaghaft und ängstlich bezeichnet. Aber sie waren Schatten, ob nun wesentlich älter, weiser oder vergesslicher machte keinen Unterschied. Das durfte er nie außer Acht lassen.
Hinter der Pforte stehen zu bleiben würde ihm nichts nutzen. Er verlöre nur Zeit. Ihm blieb daher nichts anderes übrig, als seinen Weg aufs Geratewohl zu suchen. Tomal nahm seinen Mut zusammen und marschierte los.
»Was habe ich noch zu verlieren? Ich starb innerhalb eines Tages zweimal, auf ein drittes Mal kommt es nicht mehr an«, dachte er.
Die Gleichgültigkeit gegenüber Gefahren war riskant. Tomal wusste, dass die Schatten tückisch waren. Leichtsinn und Fehler konnte er sich nicht leisten, drohte ihm dadurch doch ein ewiges Schicksal in ihrem Reich. Während der Lesvaraq ziellos im Nebel umherwanderte, hatte er immer öfter das Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Er glaubte, er würde schweben und von den Nebelschwaden wie von selbst mitgetragen. Wohin, wusste er nicht. Die monotone Eintönigkeit um ihn herum machte ihm zu schaffen. Alles präsentierte sich grau in grau. Nur manchmal schienen sich für einen kurzen Augenblick Konturen aus dem Nebel zu schälen. Mal waren es Hände, mal Gesichter und ein anderes Mal ein ganzer Körper. Aber auch sie schienen aus demselben, nicht körperlichen Stoff eines fortwährenden Graus zu entstehen, nur um sich gleich darauf wieder aufzulösen und zu verschwinden. Der Nebel fühlte sich kalt auf seiner Haut und in seinen Lungen an. Tomal hatte keine andere Möglichkeit, als den Nebel einzuatmen, ob er wollte oder nicht.
»Mein Name ist Tomal Alchovi, ich bin der Fürst des Hauses Alchovi und ein Lesvaraq«, sagte er laut zu sich selbst.
Seine eigene Stimme klang ihm plötzlich eigenartig fremd und weit entfernt, so als ob er sie zum ersten Mal hörte. Tomal hatte Angst, seinen Namen zu vergessen.
»Wer bin ich?«, fragte er sich. »Warum bin ich hier? Wo ist hier? Mein Name ist …«
Der Lesvaraq musste sich gehörig anstrengen, sich selbst dieeinfachsten Fragen zu beantworten. Die Erinnerung kam wieder. Aber der Nebel des Vergessens wollte nicht nachlassen. Je länger er in ihm verweilte, desto schwieriger würde es für ihn werden, sich nicht in ihm zu verlieren. Der Nebel drang in sein Innerstes ein, sog seine Gedanken und Erinnerungen auf und trug sie mit sich fort, als hätten sie nie existiert.
Wie im Traum wandelte Tomal durch das Reich der Schatten. Immer weiter ins Nichts. Er ertappte sich dabei, dass er über eine längere Zeit an gar nichts mehr dachte. Sein Kopf war leer. Panik überkam ihn. Tomal glaubte, er würde sich auflösen und Stück für Stück eins mit dem Nebel werden. Ein körperloses Wesen. Ein Geist oder einfach nur eine verlorene Seele. Ängstlich betrachtete er seine grauen Hände. Sie verschwanden vor seinen Augen.
»Was geschieht mit mir?«, rief Tomal verzweifelt. »So helft mir doch!«
Der Lesvaraq schüttelte sich, versuchte sich mit aller Gewalt gegen das Unvermeidliche zu stemmen. Ohne Erfolg. Der Nebel war überall. In ihm und um ihn herum, und er fraß den Lesvaraq schleichend auf, nahm ihn in sich auf.
Tomal vergaß, was er soeben erst gerufen hatte. Er vergaß die Panik, vergaß seine Verzweiflung und verlor sich allmählich ganz im Nebel. Es hatte keinen Zweck mehr, sich dagegen zu wehren. Er wusste ohnehin nicht, was er dagegen hätte unternehmen können, und hatte längst vergessen, wer er war und ob er sich wehren wollte.
Der Lesvaraq löste sich auf. Er hörte und sah nichts mehr. Es gab keine Sorgen, Nöte und Ängste. Nichts außer Stille und Dunkelheit. Tomal ließ sich mit dem Nebel durch das Reich der Schatten treiben.
Doch seine Wahrnehmung änderte sich. Als Teil des Nebels wurde er plötzlich jäh aus seiner Ruhe gerissen. Der Lesvaraq fühlte sich gestört. Das Vergessen und die Ruhe warenüberaus angenehm gewesen. Eine Stimme rief nach ihm. Erst ganz leise und schließlich immer lauter und drängender. Jemand suchte nach ihm.
»Sohn des Feuers, wo seid Ihr?«, fragte die Stimme.
Die Stimme war ohne jeden Zweifel weiblich. Tomal mochte sie auf Anhieb. Sie klang lieblich und schmeichelte ihm.
»Wir sehen Euer Licht. Wir fühlen das Feuer. Aber wir können Euch nicht finden! Wacht auf und sprecht mit uns«, drängte die Stimme.
»Ich bin hier, im Nebel des Vergessens«, formte sich die Antwort des Lesvaraq wie von selbst.
»Die Schatten haben Euch eingehüllt und mitgenommen.
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