Kryson 04 - Das verlorene Volk
Findet Euch selbst im Nebel. Benutzt Euer Feuer und das Licht, die Schatten zu vertreiben«, verlangte die Frauenstimme, »Ihr müsst Euch selbst befreien. Wir können Euch nicht helfen.«
Aufgeweckt durch die Stimme, versuchte Tomal etwas durch den Nebel zu erkennen. Er sah an sich hinab und entdeckte die Konturen seines Körpers, den er schon für verloren glaubte. Ein Lichtschein ging von ihm aus, der den Nebel um ihn herum verdrängte.
Plötzlich verstand er und bemerkte, dass ihm das Grau in seiner näheren Umgebung heller erschien als in einiger Entfernung. Das war immerhin ein Anfang. Die Monotonie war mit einem Mal durchbrochen, sein Orientierungssinn zurückgekehrt. Tomal erinnerte sich an alles. Die Prüfungen, seine Suche nach dem verlorenen Volk. Die Ratschläge Tarratars und Daleimas.
»Mein Name ist Tomal Alchovi, ich bin der Fürst des Hauses Alchovi und ein Lesvaraq«, rief er laut und deutlich.
Die eigenen Worte zu hören tat ihm gut und weckten neue Kräfte in ihm. Die Kälte verflog und er spürte ein wärmendes Feuer in sich lodern. Immer stärker brannte es. Das Lichtwurde heller und heller, drängte den Nebel und die Schatten immer weiter zurück, bis das Grau schließlich in weiter Ferne verschwunden war.
Tomal fand sich vor einem Abgrund wieder. Er kniete nieder und blickte in die Tiefe. Weit unterhalb seines Standorts erkannte er unzählige Lichter, die zu ihm in die Höhe strahlten.
Daleima hatte die tieferen Ebenen im Reich der Schatten ihm gegenüber erwähnt. Das Volk der Maya befand sich schon seit langer Zeit in den Schatten. Tomal nahm die Hände vor den Mund und formte einen Trichter.
»Könnt Ihr mich hören? Ich kann Eure Lichter sehen«, rief er in den Abgrund, obwohl er nicht erkennen konnte, was sich tatsächlich hinter den Lichtern verbarg.
»Wir können Euch hören und sehen«, sagte eine Frauenstimme unmittelbar hinter ihm.
Tomal wirbelte erschrocken herum. Er traute seinen Augen kaum, als er die Frau erblickte, die mit ihm gesprochen hatte. Sein Mund stand weit offen. Ihre strahlende Schönheit blendete ihn. Sie war in ein prächtiges Gewand gekleidet, das, reich mit Kristallen verziert und zahlreichen Stickereien versehen, einer Königin würdig war.
»Ich bin Saykara, die Königin der Nno-bei-Maya«, stellte sie sich vor.
Der Lesvaraq bemerkte beschämt, dass er vor ihr immer noch auf seinen Knien lag und zu ihr aufsehen musste. Er wiederholte Saykara gegenüber seinen Namensspruch, den er sich, so oft es ging, während seiner Wanderung durch den Nebel des Vergessens ins Gedächtnis gerufen hatte.
»Ich weiß«, antwortete Saykara, »aber viel wichtiger ist: Ihr seid der Mann, den wir den Sohn des Feuers nennen, unser Befreier und ein Angehöriger unseres Volkes. Das Blut der Maya fließt in Euren Adern.«
»Ich kam, Euch und die Nno-bei-Maya aus den Schatten zu führen.«
»Gewiss«, sagte Saykara, »aber Ihr habt Euch viel Zeit dafür gelassen. Seit fünftausend Sonnenwenden warten wir auf unsere Befreiung. Aber ich will Euch das nicht verübeln. Das ist Ulljans Werk. Sein Fluch brachte mein Volk zu den Schatten, und seine Macht durchbrach den Zyklus des Gleichgewichts für eine sehr lange Zeit. Dennoch … erklärt mir, wonach Ihr dort unten im Abgrund sucht?«
»Ich … ich dachte«, stammelte Tomal, »das verlorene Volk befände sich dort.«
Saykara lachte. Sie klang erleichtert.
»Und ich dachte schon, Ihr wolltet die Falschen befreien. Niemand kann aus dem Abgrund entkommen. In den tiefsten Ebenen des Schattenreiches befinden sich die ältesten Seelen. Die Urahnen Krysons und andere Geschöpfe, über die Ihr lieber nichts wissen wollt. Sie haben die Zeit ihres Lebens längst vergessen. Ihr seid bestimmt nicht gekommen, sie zu rufen. Sie würden Euch nicht einmal verstehen. Wir hingegen haben niemals vergessen, wer wir waren. Der Tod meines Volkes war unnatürlich. Eine Bestrafung, nein, eine Anmaßung des letzten Lesvaraq, der mit den Schatten im Bunde stand. Aus den Schatten heraus hielten wir stets eine Verbindung nach Zehyr. Dort befinden sich unsere Körper in einer Starre und warten nur darauf, wiederaufzuerstehen und das Leben zu vollenden, das uns gestohlen wurde.«
»Wo ist Euer Volk?«, fragte Tomal.
»Steht auf und seht Euch um«, lächelte Saykara. »Die Maya sind alle hier und werden Euch folgen. Ich möchte Euch an dieser Stelle meinen ersten Krieger, Gahaad, vorstellen.«
Tomal erhob sich und erkannte das Volk der Nno-bei-Maya, das
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