Kryson 04 - Das verlorene Volk
sich, einer nach dem anderen, aus den Schatten des Nebels löste und hinter seiner Königin versammelte. Ihre Haut wargrau und ihre Augen leblos wie bei allen Wesen in den Schatten. Dennoch glaubte der Lesvaraq, in ihren toten Augen eine aufkeimende Hoffnung erkennen zu können. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Ein groß gewachsener Krieger trat aus der Menge hervor, nickte Tomal zu und stellte sich neben seine Königin, als wolle er sie vor einem Unheil beschützen. Gahaad machte im Gegensatz zu den übrigen Maya ein zutiefst betrübtes Gesicht.
»Was ist mit Euch?« fragte Saykara ihren Krieger. Ihr war der bedrückte Ausdruck nicht entgangen, »freut Ihr Euch nicht? Der Tag unserer Befreiung aus den Schatten ist endlich gekommen. Wir kehren schon bald nach Zehyr zurück.«
»Ich werde nicht mit Euch kommen«, antwortete Gahaad.
»Was?« Saykara war entsetzt. »Ihr dürft nicht alleine in den Schatten zurückbleiben, Gahaad. Ihr würdet Euch und uns womöglich vergessen.«
»Die Schatten lassen mich nicht ziehen, meine Königin«, sagte Gahaad traurig, »Ihr wisst, was Ulljan getan hat. Mein Körper ist nicht vollständig. Würde ich jetzt mit Euch kommen, müsste ich im nächsten Augenblick für immer in das Reich der Schatten wandern.«
»Und das berichtet Ihr mir im Moment unserer Befreiung?« In Saykaras Stimme klang tiefe Enttäuschung mit.
»Verzeiht mir diese meine Schwäche, meine Gebieterin. Ich wollte es Euch sagen, all die Zeit über, die wir in den Schatten verbracht haben. Aber ich konnte nicht. Ihr wart so voller Hoffnung und Stärke. Einzig Euch haben die Maya es zu verdanken, dass wir so lange ausgehalten haben. Es tut mir leid, dass ich nicht bei Euch bleiben kann!«
»Ich gebe Euch niemals auf, Gahaad«, sagte Saykara entschlossen, »wartet in den Schatten, bis ich Euch zu mir rufe. Aber Ihr müsst stark bleiben. Wir konnten das Vergessen nur gemeinsam verhindern. Werdet Ihr das alleine schaffen?«
»Ich will es versuchen«, meinte Gahaad mit gesenktem Kopf, »versprechen kann ich es Euch nicht.«
»O nein!«, erwiderte Saykara, »Ihr werdet nicht vergessen. Sagt es und schwört beim Leben Eurer Königin und allem, was Euch heilig ist!«
Gahaad schluckte schwer und blickte Saykara direkt in die Augen. Tomal konnte ihm ansehen, der Krieger war nicht davon überzeugt, dass ihm das Unmögliche gelänge, und er liebte seine Königin mehr als sein Leben. Wie sollte sich Gahaad gegen den Nebel des Vergessens wehren? Tomal wusste aus eigener Erfahrung, wie schwer es werden würde, und er selbst hatte sich nicht lange in den Schatten aufgehalten.
»Ich werde nicht vergessen. Das schwöre ich beim Leben meiner Königin und allem, was mir heilig ist«, sagte er leise, das Wort Königin beinahe verschluckend.
»Gut«, sagte Saykara zufrieden und an den Lesvaraq gewandt, »wir brechen auf. Seid Ihr bereit, der Held unseres Volkes zu werden, Tomal?«
»Folgt mir!«, rief Tomal. »Haltet Euch stets an das Feuer und das Licht.«
Tomal ging voraus, dicht gefolgt von Saykara und einer nicht enden wollenden Reihe von Maya. Ihm wurde plötzlich bewusst, sie alle waren seine Familie. Ein ganzes Volk. Tomal war glücklich – zum ersten Mal in seinem Leben.
Der Lesvaraq drehte sich noch einmal um und sah wehmütig in die toten, leeren Augen des Kriegers. Es schmerzte ihn, einen seiner Angehörigen zurücklassen zu müssen, beinahe genauso, wie der Verlust die Königin belasten musste. Gahaad blieb alleine zurück und wurde bald vom Nebel verschluckt. Im letzten Augenblick glaubte Tomal zu erkennen, der erste Krieger der Maya hatte sich selbst bereits vergessen.
Den Weg zurück zur zweiten Schwelle zu finden, fiel dem Lesvaraq erstaunlich leicht. Jede Bewegung und jedenRichtungswechsel hatte er sich offenbar genauestens eingeprägt, als hätte er eine Karte in seinem Kopf gezeichnet. Aber er erinnerte sich doch an nichts. Das einzige Bild in seinem Kopf war das eintönige Grau des Nebels. Saykara schien zu ahnen, worüber der Lesvaraq grübelte.
»Im Nebel des Vergessens ist Euer Kopf leer«, meinte sie, »aber er ist dennoch wie ein Schwamm und saugt dankbar alles auf, was sich ihm im Grau zeigt. Viel mehr als der Weg durch das Reich der Schatten wurde ihm offenbar nicht geboten. Das könnte die Lösung sein, warum Eure Orientierung so gut funktioniert, obwohl ihr nichts sehen und hören konntet.«
Tomal antwortete ihr nicht. Er brummte nur einige unverständliche Worte. Vielleicht lag
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