Kryson 04 - Das verlorene Volk
Bestimmt würde er in Zehyr wichtige Hinweise über das Buch erhalten. Die Suche mit der Befreiung des verlorenen Volkes zu beginnen, war die richtige Entscheidung gewesen. Der Lesvaraq musste Blyss dankbar für diese Information sein.
Aber zunächst war er nur froh darüber, das Reich der Schatten endlich heil wieder verlassen und das Volk der Maya nach so langer Zeit gerettet zu haben. Sie waren unter die Lebenden zurückgekehrt.
Das verlorene Volk
T omal erwachte in Tarratars Kammer genau an der Stelle, an der ihn der Narr von hinten erdolcht hatte. Er lag auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten, und sein Nacken schmerzte. Der Lesvaraq konnte sich nicht bewegen. Sein Geist war gefangen in einem versteinerten Körper, der erst allmählich wieder zum Leben erwachte. Aber immerhin funktionierten seine Sinne, der Kopf, das Herz und die Lungen.
»Ah … Ihr seid wach und atmet«, hörte er Tarratars Stimme sagen, »das ist ein gutes Zeichen. Lasst Euch Zeit. Es wird eine Weile dauern, bis Ihr Eure Glieder wieder bewegen könnt. Aber tröstet Euch, Ihr habt es besser getroffen als das Volk der Maya. Sie werden wesentlich länger für die Verwandlung brauchen. Kein Wunder nach fünftausend Sonnenwenden im Reich der Schatten.«
Der Lesvaraq wollte antworten, aber er brachte nicht viel mehr als ein dumpfes Grunzen heraus.
»Ts… ts… ts, was war denn das für ein Geräusch? Bemüht Euch lieber nicht«, lachte Tarratar, »ich kann mich sehr gut alleine unterhalten. Außerdem leistet mir Daleima noch für eine Weile Gesellschaft, bevor sie zu ihrer eigentlichen Aufgabe aufbrechen und Zehyr verlassen wird. Bald werdet Ihr wieder reden und laufen können. Ein faszinierendes Schauspiel wartet auf Euch, wenn die Statuen der Maya langsam zum Leben erwachen.«
Tomal würde sich in Geduld üben müssen, was ihm ungemein schwerfiel. Er dachte über seinen Aufenthalt im Reich der Schatten nach und über die kurze Begegnung mit dem Fürsten Corusal Alchovi. Nach wie vor war er der festen Überzeugung, dass ihn die Schatten getäuscht hatten. Was er erlebt hatte, war wie ein Albtraum an seinem inneren Augevorbeigezogen. Nichts davon erschien ihm im Nachhinein wirklich. Aber er hatte die Prüfungen abgelegt und das verlorene Volk aus den Schatten geführt. Iskrascheer war für immer verloren. Und nun lag Tomal versteinert auf dem Fußboden in der Kammer eines Narren. Er versuchte zu lachen, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. Ein gackerndes Krächzen waren die einzigen Laute, die über seine Lippen kamen. Die Situation wirkte grotesk auf ihn.
»Was geht in Eurem Kopf vor?«, fragte Tarratar den Lesvaraq. »Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr im Reich der Schatten Dinge gesehen habt, die einem Sterblichen den Verstand rauben können. Was denkst du, Daleima? Geht es ihm gut oder ist er wahnsinnig geworden? Du hast mehr erlebt und kennst die Schatten besser als ich.«
»Tomal hat sich wacker geschlagen und er ist nicht der Versuchung erlegen, sich von ihren Bildern in die Irre führen oder gar aufhalten zu lassen. Die Schatten fürchteten sich vor ihm, das habe ich in all der Zeit, die ich nun schon dort verbracht habe, noch bei keinem Besucher erlebt.«
»Hast du denn viele Besucher im Reich der Schatten gesehen?« Tarratar zog erstaunt eine Augenbraue nach oben.
»Neben denjenigen falschen Auserwählten, die du mir schicktest, und einigen Praistern wie Thezael oder der Rachurenhexe Rajuru und anderen, die mit den Schatten im Bunde stehen, gab es hin und wieder Sterbliche, die ihr Glück versuchen und das Wagnis eingehen wollten, einen Angehörigen oder geliebten Freund aus den Schatten zu sich zurückzuholen. Ihre Anzahl nahm zu, nachdem die Schlacht am Rayhin geschlagen war und die Geißel der Schatten über Ell zog. Ihr Schmerz über den Verlust war so groß, dass sie ihr eigenes Leben und ihr Seelenheil dabei aufs Spiel setzten. Aber das war ihnen gleichgültig. Sie hatten bereits mit ihrem Leben abgeschlossen, bevor sie in das Reich der Schatten hinabstiegen,und das war auch meist ihr größter Fehler. Die meisten suchten zuerst die Hilfe eines Saijkalsan, Magiers oder Praisters, um sich auf den Weg zu machen. Andere nahmen sich mit Gewalt das Leben. Aber ob mit oder ohne fremde Hilfe, sie scheiterten allesamt. Keiner von ihnen kehrte je zu den Lebenden ans Licht zurück.«
»Das sind bemitleidenswerte Schicksale«, meinte Tarratar, »oder sollte ich ihren gescheiterten Versuch nicht besser als Dummheit bezeichnen?
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