Kryson 04 - Das verlorene Volk
keinen Widerstand bieten. Damit wäre er in der Lage, einen Spalt in der Welt zu öffnen, der es ihm ermöglicht, Zeit und Raum zu überwinden. Eine andere Dimension. Kaum vorstellbar, nicht wahr?«
»Und das lest Ihr aus den Worten Ulljans heraus?«
»Natürlich, mein Overlord. Ulljan war ein Meister der Verwirrung. Ihr dürft seine Worte niemals wörtlich nehmen.«
»Ich verstehe den Sinn trotzdem nicht«, grübelte Yilassa nachdenklich.
»Sollte Ulljan hinter das Geheimnis gekommen sein, wie sich Zeit und Raum beeinflussen lassen, hat er gewiss auch dasRätsel um die Schöpfung Krysons gelöst. Er wäre in der Lage, Leben zu schaffen und Unsterblichkeit zu erlangen. Vielleicht stimmen die Legenden über seine Vernichtung durch die Saijkalrae nicht. Wer weiß? Er könnte überlebt haben und sein Geist wohnt in einem anderen Wesen, womöglich in den Brüdern selbst?«
»Das wäre …« Yilassa schluckte. »Und wie geht es in der Schriftrolle weiter?«
»Ich denke, es wäre besser, ich übersetze die Schriftrolle erst und erzähle Euch dann die Geschichte in meinen eigenen Worten. Ich habe die vergangenen Tage ununterbrochen gelesen. Die Schriftzeichen verschwimmen vor meinen Augen. Zudem ist es sehr anstrengend für mich, die Worte zu lesen, diese gleichzeitig zu übersetzen und sie sodann unmittelbar an Euch weiterzugeben. Das lässt mir an manch schwieriger Stelle keinen Spielraum für die richtigen Interpretationen«, überlegte Pydhrab laut.
»Wie Ihr meint«, antwortete Yilassa. »Ich gebe Euch einen weiteren Tag, dann habt Ihr die Schriftrolle in einer für mich verständlichen und heute geläufigen Sprache abgeschrieben.«
»Gewiss, mein Overlord!«, gab Pydhrab dem Drängen nach. »Ich werde mein Bestes geben.«
Daraufhin wandte sich Yilassa zum Gehen und ließ den Atramentor allein in der muffigen Kammer zurück.
Pydhrab rieb sich erneut die Augen. Gegen das Brennen half nichts mehr. Es hatte keinen Zweck, in diesem übermüdeten Zustand weiterzulesen, so ungeduldig er den Fortgang der Erzählung erfahren mochte. Er brauchte Schlaf. Sicher würde es genügen, wenn er sich in der Kammer einen Platz an der Wand aussuchte, um für zwei oder drei Horas die Augen schließen zu können. Er wollte die Kammer nicht verlassen und musste Zeit sparen. Ein Tag war knapp, um mit der Schriftrolle fertig zu werden. Ein dampfender Becher Morgenruf würde ihn rasch wieder wach werden lassen. Pydhrab besorgte sich aus einer Kammer in der Nähe zwei Ballen Stroh und einige Wolldecken. Es war kühl im Verlies. Nachdem das Lager zu seiner Zufriedenheit eingerichtet war, bettete sich Pydhrab zur Ruhe.
Er träumte von Ulljan und dessen Reisen durch Ell. Doch es war kein guter Traum. Pydhrab spürte eine Bedrohung, die sich wie ein Schatten über seine Gedanken legte. Doch er konnte sie weder sehen noch greifen noch besaß er etwas, was er ihr entgegenhalten konnte.
Schließlich schreckte er schweißgebadet und zitternd aus dem unruhigen Schlummer. Mehr als zwei Horas hatte er gewiss nicht geschlafen. Doch nach einem Becher Morgenruf fühlte er sich tatsächlich besser und machte sich wieder an die Arbeit.
Je weiter Pydhrab allerdings las, desto unruhiger wurde er. Ihm gefiel nicht, welches Geheimnis ihm die Worte in der Schriftrolle enthüllten – ganz und gar nicht. Seine Augen wurden größer und größer und seine Hände begannen zu zittern. Was hatten Ulljan und dessen Gefährte Kallahan angerichtet? Das Volk der Nno-bei-Maya war verdammt worden. Als er die Schriftrolle zu Ende gelesen hatte, fasste der Atramentor einen Entschluss. Niemand durfte erfahren, was sich auf Kartak nach der Begegnung mit der Königin der Maya zugetragen hatte.
Die Erkenntnis über ein furchtbares Unrecht stellte die Orden der Orna und der Bewahrer für den Schriftgelehrten infrage. Welche Berechtigung für ihre Existenz hatten die Orden auf einer solch niederträchtigen Grundlage? Hüteten sie am Ende seit Tausenden von Sonnenwenden nur das Erbe eines gemeinen Mörders? War Ulljan von einem boshaften Wesen der Dunkelheit beseelt? Die Gabe des Kriegers stand den Bewahrern nicht zu, so viel war sicher. Sie war ein Geschenk der Kojos. Ulljan allerdings wollte die Gabe ausschließlich fürseine eigenen Zwecke einsetzen und war in seiner Gier nach der Mehrung seines Wissens und der Macht kaum zu bremsen gewesen. Was sollte der Atramentor mit diesem belastenden Wissen nun anfangen? Er zweifelte plötzlich an sich selbst, der er das Erbe
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