Kryson 04 - Das verlorene Volk
darf es nicht erfahren«, entschied sich Pydhrab.
Aber die Pflichterfüllung und die Treue zu seinem Orden ließen ihn wieder und wieder in seiner Entscheidung wanken. Er kam sich wie ein Verräter vor, wenn er dem Orden das Wissen vorenthielt und es für seine eigenen Interessen verwenden sollte. Sein Herz raste und schmerzte bei dem Gedanken, die Schriftrolle jeden Augenblick anzuzünden und die Worte des Ordensgründers für immer auszulöschen. Und damit auch die letzte Erinnerung an ein großartiges Volk, die fortan nur in seinem Kopf weiterleben würde.
Dieses Schicksal des Vergessens hatten die Nno-bei-Maya nicht verdient. Niemand hatte das. Mit zitternder Hand hielt Pydhrab die Flamme einer Kerze an die Schriftrolle und beobachtete voller Entsetzen wie sich diese an einer Stelle vom Ruß erst schwarz färbte, an den Rändern zu glimmen begann und schließlich Feuer fing. Seine Aufzeichnungen hatte er vorsorglich in eine tönerne Schale gelegt. Als die Schriftrolle beinahe vollständig brannte, warf er diese auf seine Aufzeichnungen, die augenblicklich in Flammen aufgingen. Binnenweniger Sardas war die Arbeit der vergangenen Wochen bis auf ein schwelendes Aschehäufchen vernichtet.
Pydhrab seufzte. Rauch hatte die Kammer gefüllt und drang beißend in seinen Mund und die Nase. Der in seine Lungen dringende Rauch reizte ihn zum Husten. Die Klinge an seinem Hals spürte er erst im letzten Moment. Entsetzt riss er die Augen auf.
»Was ...?«, setzte er hustend zu einer Frage an.
Der Atramentor kam nicht mehr dazu, die Frage auszusprechen. Sie endete in einem röchelnden Gurgeln, als sich sein eigenes Blut über die Stimmbänder und in seine Lunge ergoss. Sein Mörder hatte rasch gehandelt und das überaus scharfe Messer mit einem kräftigen Ruck, einen tiefen Schnitt hinterlassend, durch seinen Hals gezogen. Pydhrab griff sich in einem Reflex Hilfe suchend mit beiden Händen an den Hals, als ob er seinen Kopf daran hindern wollte, nach hinten zu kippen und herabzufallen. Pulsierend sprudelte das Blut aus seinem Hals und verteilte sich über die Hände, auf seine Kleidung und bis weit in die Kammer hinein. Verzweifelt versuchte Pydhrab einen Zugang zu öffnen. Aber es war zu spät.
»Verdammter Narr!«, hörte Pydhrab die Stimme seines Mörders fluchen, die ihm seltsam vertraut vorkam. »Was habt Ihr Euch bloß dabei gedacht? All das Wissen habt Ihr zerstört. Nun könnt Ihr den Schatten davon berichten. Jedenfalls werdet Ihr Euren wahren Herren nicht mehr davon erzählen können, Saijkalsan Pydhrab. O ja, ich habe Euch durchschaut. Lange waren wir auf der Suche nach dem verräterischen Ordensbruder. Jetzt habe ich ihn endlich gefunden. Ihr wolltet Euch bei den Saijkalrae wichtigmachen. Habt Ihr im Orden nicht genug Anerkennung bekommen? Macht Euch deshalb keine Gedanken. Ich habe gesehen, was ihr geschrieben habt, und kann mich an jedes Eurer Worte erinnern, als ihr Ulljans Schriften freundlicherweise für Yilassa übersetzt habt. DasWissen wird also nicht verloren und Eure Arbeit nicht umsonst gewesen sein.«
Der Atramentor brachte zur Antwort erneut nur ein Gurgeln hervor. Sein Mörder hatte recht. Er wollte das Wissen über das Versteck mit den magischen Brüdern teilen. Sie hatten ihm viel dafür versprochen. Eine Erhöhung. Einen Platz an ihrer Seite in den heiligen Hallen. Er sollte ihnen angehören und dienen. Doch mit diesem Schlüssel für das magische Buch in seinem Kopf würden sie ihn brauchen und deshalb respektieren. Das Wissen war seine Sicherheit vor der Abhängigkeit und Sklaverei. Er wollte sich den Brüdern nicht restlos verschreiben.
Pydhrab fiel auf die Knie. Die Kammer drehte sich vor seinen Augen im Kreis. Schneller und schneller. Die Konturen der Gegenstände verschwammen zu Schatten, die näher krochen und nach ihm griffen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Pydhrab rang ein letztes Mal erfolglos nach Atem und starb.
Der Mörder des Atramentors säuberte die bluttriefende Klinge an der Kleidung des Getöteten und spuckte voller Verachtung auf den Leichnam.
»Dein Wissen um das geheimnisvolle Verschwinden der Nno-bei-Maya gehört nun mir«, sagte das Gefäß leise und lachte dabei. »Eines Tages werde ich wieder leben und frei sein. Ungebunden von einem sterblichen Wesen werde ich mit der Macht des Buches selbst Unsterblichkeit erringen. Vergangenheit und Zukunft, die Herrschaft über die Zeit selbst werden mir gehören. Herr über Leben und Tod werde ich sein. Und du bist nichts als
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