Kryson 04 - Das verlorene Volk
Weg zum Thron birgt viele Fallen, die sich jeden Tag willkürlich ändern. Niemand weiß, unter welcher Marmorplatte sich gerade eine tödliche Falle befindet. Es mag sein, dass die Veränderung einem Muster folgt. Wenn dem so sein sollte, habe ich es bis heute noch nicht herausgefunden. Es ist unmöglich, sich die einzelnen Standorte der Fallen zu merken. Am nächsten Tag befinden sie sich woanders und die ganze Mühe war umsonst.‹
Hinter jeder Säule befand sich ein Maya-Krieger. Sie standen regungslos da, als wären sie aus Stein. Lediglich der sich hebende und senkende Brustkorb zeigte mir, dass sie atmeten und lebten. Gewiss wäre es keine Schande gewesen, die Wachen mit Statuen zu verwechseln.
›Eine falsche Bewegung oder die bloße Andeutung einer Bedrohung gegenüber unserer Königin und sie erwachen alle zum Leben‹, lächelte Gahaad. ›Lasst es nicht darauf ankommen. Sie mögen Euch im Augenblick nicht schrecken, aber wehe wenn sie losgelassen, einen Attentäter zu bekämpfen. Sie sind kaum zu bändigen, nicht wahr, mein Freund?‹
Gahaad klopfte im Vorbeigehen einem der stocksteif stehenden Leibwächter auf die Schulter. Dieser wiederum zeigte sein Verstehen durch ein kurzes Nicken mit dem Kopf an. Offenbar war er mit den Worten des Anführers der Kriegervoll und ganz einverstanden. Als wir die letzte Säule passiert hatten, bog Gahaad rechts ab und wir standen seitlich versetzt nur noch etwa einhundert Fuß entfernt neben dem Thron.
›Wartet‹, flüsterte Gahaad und hatte dabei die Hand gehoben, ›sie wird Euch auffordern, zu ihr zu kommen. Bei Eurem Leben, es schickt sich nicht, ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis vor Saykara zu treten.‹
Ich war mir sicher, dass sie uns längst wahrgenommen hatte. Selbst wenn wir in unserem Wuchs kleiner waren als die meisten Maya, fielen wir doch auf. Vielleicht gerade deswegen. Aber sie machte keine Anstalten, uns ihre Aufmerksamkeit zu widmen oder ihren Kopf in unsere Richtung zu drehen. Das gab mir Gelegenheit, sie für eine Weile von der Seite zu betrachten. Saykara war eine wunderschöne Frau und eine höchst beeindruckende Erscheinung. Obwohl sie saß, war unschwer zu erkennen, dass sie groß, schlank und feingliedrig gebaut war. Sie besaß ein ebenmäßig geschnittenes, schmales Gesicht mit vollen Lippen, markanten Wangenknochen und einer makellosen Haut, die unter dem Licht der Kristalle einen leicht bronzenen Schimmer aufwies. Ihr in den Farben der Sonnen strahlendes Haar fiel in langen, wallenden Locken über Rücken- und Armlehnen des Throns, auf dem sie mit verschränkten Beinen saß. Ich hatte das Gefühl, als wäre sie von einem hellen Lichtschein umgeben, der aus ihrem Inneren selbst kam und von ihrem Kopf ausging. Eine magische Ursache konnte dieses Bild nicht haben.
›Siehst du, was ich sehe?‹, flüsterte ich Kallahan ins Ohr.
›Ich denke schon, wenn wir dasselbe meinen‹, antwortete Kallahan, der seinen Mund nicht mehr zugeklappt hatte, seit er die Königin der Maya erblickt hatte.
›Sie strahlt aus sich selbst heraus!‹, fuhr ich leise fort.
›Das ist der Kristallstaub in ihrem Haar‹, lachte Kallahan, der offensichtlich die schärferen Augen von uns beiden besaß.›Ihre Haare sind voll davon und ihre Haut ist damit überzogen. Wahrscheinlich haben die Maya ihre Königin darin gebadet. Der Staub glitzert, funkelt und spiegelt das Licht wider. Der erste Blick täuscht. Jeder, der sie sieht, muss denken, sie leuchte und strahle wie die Sonnen von Kryson.‹
›Trotzdem beeindruckend‹, meinte ich und konnte eine leichte Enttäuschung über die allzu einfache Erklärung des Rätsels nicht verbergen.
›Das haben die meisten Täuschungen so an sich, Ulljan. Sie blenden deine Sinne, sollen dich verführen, dich zu einem erwarteten Verhalten bringen. Siehst du aber hinter die Fassade, erwartet dich Ernüchterung und der bittere Geschmack des Betruges.‹
›Na, so schrecklich wird es nicht sein‹, tadelte ich Kallahan, ›immerhin ist sie die Königin der Maya und täuscht uns nicht.‹
›Wir werden sehen, ob sie uns wohlgesinnt ist oder uns nur aus dem Weg schaffen will.‹
Endlich erhielten wir das erwartete Zeichen. Sie sah zu uns herüber und nickte. Zu meiner Überraschung hatte sich Saykara für unseren Empfang von ihrem Thron erhoben, nicht ohne dabei zuvor ihre langen Beine in einer geschmeidigen Bewegung entknotet zu haben, was mich bereits beim Zusehen schmerzte.
›Folgt mir‹, befahl Gahaad, ›und haltet
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