Kryson 04 - Das verlorene Volk
glühen begann und schließlich schmolz, als wäre es in heiße Lava gefallen. Die jedem Kettenglied innewohnende Magie der Rachurenhexe löste sich in jenem Moment in Nichts auf. Drachenmagie hatte einen sich selbst befreienden Charakter. Doch damit hatte niemand gerechnet. Wie ein endloser Strom flossen die Drachentränen. Ein Strom, der aus der inneren Quelle des Drachen selbst entsprang, wie von allein Magie freisetzte und all den Schmerz Haffak Gas Vadars über die Fesseln ergoss, der ihn quälte und gegen seinen Willen festhielt. Mit jeder Berührung schmolzen weitere Glieder, bis sich die Ketten schließlich von den Vorderpranken und vom Hals lösten und klirrend herabfielen. Das Geräusch störte den Gesang des Todsängers empfindlich und unterbrach die Magie der Klänge für einen winzigen Augenblick, in welchem der Drache und die Chimären wieder zu sich kamen und sofort in ein lautstarkes Gebrüll verfielen.
Nalkaar hielt verdutzt inne. Was war geschehen?
Er hatte nicht bemerkt, wie sich die Ketten des Gefangenen gelöst hatten, und schob die Ursache des lautstarken Aufruhrs auf seinen Gesang. Der Todsänger nahm an, er hätte einenfalschen Ton angeschlagen und die schlummernden Wesen durch Missklänge geweckt und erzürnt. Keinesfalls wollte er das in den Verhandlungen mit Haffak Gas Vadar Erreichte gefährden und den Gesang vorzeitig beenden. Stattdessen steigerte er seine Bemühungen noch einmal, sang mit Leidenschaft und steuerte auf einen Höhepunkt zu. Der Drache – aus seinem Traum erwacht – hatte sofort entdeckt, dass ihn die vorderen Ketten nicht mehr banden und er seinen Körper freier bewegen konnte. Nachdem er zunächst verwirrt nach einer Erklärung suchte, wie er sich wohl von den Ketten befreit hatte, erkannte er sehr schnell die Wirkung seiner Tränen auf Eisen, Stein und Magie. Er nutzte jenes Wissen und löste die restlichen Ketten an seinem Körper. Das fiel ihm nicht schwer, solange Nalkaars Gesang anhielt. Dennoch musste sich Haffak Gas Vadar mit all seiner Kraft gegen die einschläfernde Wirkung der Musik zur Wehr setzen. Als er sich in der Höhle endlich frei bewegen konnte, unterbrach er das Lied des Todsängers:
»Ich habe genug gehört, Nalkaar. Meine Kinder gehören dir. Gib acht und verschwende ihr Leben nicht. Selbst wenn sie keine Drachen sind und keinerlei Würde, Weisheit oder Anmut besitzen, so sind sie dennoch mein eigen Fleisch und Blut. Deine Magie ist ein Wunder und sie ist mächtig. Mächtiger, als du dir bewusst bist. Würdest du sie mit Bedacht und Verstand einsetzen, könntest du alleine über Kryson herrschen. Wer braucht einen Zyklus der Lesvaraq, die magiebegabten Völker der Altvorderen, Drachen oder die Saijkalrae-Brüder. Deine Macht ist Musik und sie ist wunderschön. Ich kenne nichts, was sie übertreffen könnte. Niemand kann ihr widerstehen.«
»Ich danke dir, Drache. Du bist meine Herausforderung und spornst mich zu Höchstleistungen an. Du hast etwas an dir, was mich immer wieder dazu bringt, für dich zu singen und dabei mein Bestes zu geben. Leider ist meine Musik noch nicht perfekt. Ich habe allerdings jemanden getroffen, der ihrden Raum lässt, sich zu entfalten. Er spielt sein Flöteninstrument virtuos. Mit seiner Hilfe wird es mir gewiss gelingen, den Gesang der Todsänger weiter auszubauen.«
Es war eigenartig, aber Nalkaar freute sich aufrichtig über das Lob des Drachen. Endlich hatte er ein Wesen gefunden, das seine Kunst schätzte. Der Drache würde seinen Plan verstehen und ihn vielleicht sogar gutheißen. Nalkaar dachte sogar daran, ihm ein eigenes Lied zu widmen, sobald er den Gesang mit der Unterstützung des Flötenspielers verbessert hatte. Obwohl der Todsänger Haffak Gas Vadar beherrschte, hatte er großen Respekt vor dem Wesen des Flugdrachen. Vielleicht fürchtete er sich sogar davor. Der Drache war alt. Weit älter als Nalkaar selbst. Niemand – außer dem Drachen selbst oder den Kojos – konnte sagen, welche Geheimnisse und welches Wissen er in sich barg. Wie mächtig waren Haffak Gas Vadar und die Drachenmagie? Machte ihn der Verlust seiner Seele, die noch nicht einmal seine eigene war, wirklich abhängig und schwach?
Sicher, der Todsänger hatte ihn bezwungen. Das war ein Indiz dafür, dass sein Plan am Ende aufgegangen war. Aber würde er ihn wirklich auf Dauer kontrollieren können? Bislang hatte der Drache nicht den Eindruck vermittelt, er könnte sich aus der Gewalt der Rachuren von selbst befreien. Sein eigener
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