Kryson 04 - Das verlorene Volk
Sprung vollführte, der selbst Nalkaar nicht entging. »Wie viele habt Ihr versklavt?«
»Ich habe sie nicht gezählt«, musste Nalkaar zugeben. »Vielleicht waren es fünfzig, vielleicht einhundert, die sich meinem Gesang entziehen konnten. Die übrigen Tartyk folgten meinem Ruf als Todsänger.«
»Ihr habt Tausende eines edlen, magischen Volkes auf Eurem Gewissen«, warf der Drache dem Todsänger vor. »Ihr solltet Euch dafür schämen. Aber Ihr seid heute ehrlich zu mir gewesen. Dafür will ich mich als dankbar erweisen.«
Nalkaar atmete auf. Dies stellte immerhin einen Anfang dar und erwies sich als gut für den Todsänger, so er doch hoffte, der Bestrafung seiner Herrscherin mit Geschick und Verstand entgehen zu können. Zeigte sich Haffak Gas Vadar einsichtig, wäre Rajuru bestimmt zufrieden. Und das war mehr, als er erwarten durfte.
»Werdet Ihr heute für mich singen?«, wollte Haffak Gas Vadar plötzlich wissen.
»Wenn Ihr mir im Gegenzug versprecht, die Drachenchimären freizugeben und die Aufseher in Zukunft in Ruhe zu lassen«, seufzte Nalkaar und zuckte mit den Schultern.
»Ihr sollt meine Kinder bekommen, Todsänger«, lenkte der Drache ein, »aber Ihr werdet von Fee und den Drachen singen, so lange, bis ich eingeschlafen bin. Danach dürft Ihr die ausgewachsenen Chimären den Aufsehern überlassen. Wo bleibt Zanmour?«
»Er ist beschäftigt. Ich werde nach ihm schicken lassen. Wenn Ihr wieder aus Eurem Schlummer erwacht, wird er gewiss bei Euch sein. Seid Ihr bereit?«
»Ich bin bereit, wenn Ihr es seid, Todsänger. Singt, so schön Ihr könnt. Ich will eine Träne für meine Schwestern und Brüder vergießen. Und für meine todgeweihten Kinder, die in den Krieg ziehen und Unheil über Ell bringen werden.«
Nalkaar beträufelte seine Stummelzunge mit einem Tropfen Öl, schloss die Augen, konzentrierte sich auf seine Musik und begann zu singen. Er begann leise mit einer einfachen, harmonischen Melodie, gerade so, als wolle er ein Kind in den Schlaf singen. Der Drache lauschte den Klängen und wiegte seinen Kopf langsam im Rhythmus der Musik hin und her, die ihn so wundersam berührte. Während sich der Todsänger mit jedem Ton steigerte, verstummten die Drachenchimären ebenso wie ihr Vater und fielen in eine Starre, aus der sie erst wieder erwachen würden, wenn der Gesang endete. Die Brutstätten waren plötzlich erfüllt von der Stimme Nalkaars, die sich ihren Weg durch die Gänge über Treppen und Leitern bis in die obersten Ebenen bahnte. Die Zeit schien stillzustehen. Nichts und niemand rührte sich. Kein Stöhnen, Jammern oder Fluchen. Keine Schmerzensschreie. Nicht einmal ein Räuspern oder Husten war zu vernehmen. Der Gesang klang anders als die Tonfolgen, die Nalkaar einsetzte, wenn er um die Seelen seiner Opfer buhlte. Melancholie zwar, dafür jedoch weniger Disharmonien bestimmten das Lied. Und der Gesang war magisch, nicht minder schön und bewegend. Der erste Todsänger war ein Meister seines Fachs. Ob er nun um Seelen rang oder ein Schlaflied anstimmte, stets zeigte er sich von seiner besten Seite. Seine Musik berührte das Innerste seiner Zuhörer und setzte nie gekannte Gefühle frei.
Tränen sammelten sich in den Augen des Drachen. Heiße Drachentränen, die Haffak Gas Vadar über die ausgeprägten Wangenknochen seines mächtigen Schädels liefen und schließlich zu Boden fielen, um dort zischend Löcher in den felsigen Untergrund zu brennen. Der Drache machte sich nicht die Mühe, seine Tränen zurückzuhalten. Dazu war er nicht in der Lage. Er ließ sich fallen, saugte jeden Ton begierig in sich auf, als ob er ihn festhalten wollte und schließlich, nach vergeblicher Mühe, doch vergehen lassen musste. Der Verlusteines solchen Tons schmerzte ihn beinahe mehr als die Erinnerung an das Schicksal seines Volkes. Diese Musik war einzig für ihn gedacht. Für ihn und seine verstorbenen Brüder und Schwestern. Er bildete sich ein, die Musik gehöre ihm und sei das einzige Wertvolle, das er noch besaß. Für die Musik des Todsängers wäre er gestorben. Sie war stets wie ein Rausch, der ihn für wenige Momente in einen wunderschönen Traum versetzte. Unwirklich zwar, aber jede Sardas eines Traums vom Glück war besser als die Wirklichkeit in den Brutstätten, der er sich nur allzu gerne entzog.
Eine Träne berührte die magische Kette an der Vorderpranke Haffak Gas Vadars. Der Drache bemerkte nicht, als sich das von der Flüssigkeit benetzte Kettenglied plötzlich erhitzte, zu
Weitere Kostenlose Bücher