Kryson 04 - Das verlorene Volk
Mutter, Tomal«, riet Sapius, »sie ist eine weise und kluge Frau und hat dir bestimmt das ein oder andere mitzuteilen, bevor wir abreisen.«
»Das werde ich«, sagte Tomal, »ihr beide werdet inzwischen die Vorbereitungen für unsere Reise treffen. Die Eiskrieger werden uns auf dem Weg eskortieren!«
»Du willst die Eiskrieger bitten, uns nach Tut-El-Baya zu begleiten? Jafdabh könnte das als feindliche Geste auffassen und seinen Sturz befürchten«, gab Sapius zu bedenken.
»Jafdabh fordert unsere Unterstützung im Kampf gegen die Rachuren. Dann wird er auch die Eiskrieger akzeptieren. Ein Teil der Krieger bleibt hier, um Alvara, Eisbergen und den Eispalast zu sichern. Der andere Teil kommt mit uns. Du und Tallia entscheidet, wie viele Krieger uns begleiten werden.«
Tomal erhob sich von seinem Stuhl und ließ die beiden Magier nachdenklich zurück. Tallia und Sapius blickten sich lange in die Augen.
»Denkst du, es war richtig, ihn zu überreden, dem Ruf des Regenten zu folgen?«, fragte Tallia unsicher.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Sapius ehrlich, »ich weiß seit einiger Zeit überhaupt nicht mehr, was falsch oder richtig ist. Vielleicht endet unsere Reise in einer Katastrophe, womöglich wird es Krieg zwischen den Fürsten und dem Regenten geben. Aber es gibt auch eine Chance, dass das Bündnis zwischen den Fürsten und dem Regenten hält und sie vereint gegen die Rachuren vorgehen werden. Und wenn die Hoffnung auch noch so klein sein sollte, so müssen wir die Gelegenheit dennoch nutzen.«
Tallia nickte und drückte Sapius damit wortlos ihreZustimmung aus. Sie saßen noch für eine Weile schweigend nebeneinander, bevor sie sich aufmachten, die notwendigen Reisevorbereitungen zu treffen und Baylhard über die Absichten des Lesvaraq zu informieren.
Trotz ihres schon betagten Lebensalters hatte Alvara nichts an Schönheit eingebüßt. Sie wirkte edel, äußerlich vielleicht nur ein klein wenig reifer und trauriger. Wer sie nicht kannte, hätte ihr Alter ohne Weiteres auf zwanzig Sonnenwenden jünger geschätzt. Der Verlust ihres Gatten vor mehr als fünfundzwanzig Sonnenwenden hatte ihr gleichwohl schwer zugesetzt. Nicht dass sie sich die Trauer offen hätte anmerken lassen. Aber es gab hin und wieder Tage, an denen sie ihre Gemächer nicht verließ und heimlich und alleine weinte, bis schließlich all ihre Tränen versiegt waren. Dann gab sie sich ihren Träumen hin, in denen sie der Einsamkeit entfliehen wollte und sich auf die Suche nach ihrem Gatten machte. Doch an der Pforte zum Reich der Schatten endete ihre Reise. Der gewaltsame Tod des Fürsten war ein Schock für Alvara, den sie bis heute nicht überwunden hatte. Sie vermisste seine Güte, die starke Hand, die Gespräche und das uneingeschränkte Vertrauen, das sie stets gehegt und eng verbunden hatte. Er war es, der ihr Wärme und Sicherheit in einer von Schnee und Eis geprägten Welt gegeben hatte.
Nach seinem Tod war der Eispalast für Alvara spürbar kälter und dunkler geworden. Bis heute hüllte sie sich von Kopf bis Fuß in schwarze und graue Gewänder und trug einen Trauerschleier über dem Gesicht. Obwohl sie jeden Tag treu von den Bediensteten umsorgt und die Feuer in den Kaminen und Öfen für die Fürstin stets warm gehalten wurden, gelang es ihren Vertrauten nicht, die Kälte aus ihrem Inneren zu vertreiben. Wie in einer Grabkammer im ewigen Eis kam sie sich vor, in der sie lebendig begraben war. Seit sie die Führung über dasFürstentum Alchovi an Tomal abgegeben hatte, kam sie sich zudem überflüssig und nutzlos vor, denn Tomal suchte höchst selten ihre Gesellschaft und in noch wesentlich geringerem Umfang ihren Rat.
In eine wärmende Decke eingewickelt saß Alvara auf weichen, weißen Fellen in ihrem Lieblingssessel und starrte aus dem Fenster ihrer Kammer, als warte sie nur darauf, dass jeden Augenblick jemand hereinkäme, sie mitnähme und mit ihr der Einsamkeit entflöhe. Ihr Blick wanderte zum nördlichen Ostmeer hinaus, wo sich die Wellen über dem tiefen Blau des Wassers kräuselten und die Fischer mit gefüllten Netzen in den Hafen von Eisbergen einliefen.
Corusal hatte den Anblick des Meeres und der heimkehrenden Fischerboote stets geliebt, die frische und kalte Luft des Nordens nur allzu gerne tief eingeatmet, die seine Sinne geschärft und ihm ein Gefühl der Freiheit vermittelt hatte. In der Nähe des Meeres konnte Alvara das Salz auf der Zunge schmecken, das zuweilen ihre Nase reizte und sie heftig zum
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