Kryson 05 - Das Buch der Macht
verwundert.
In der Ferne konnte Tomal bereits die Ordenshäuser erkennen, die sich deutlich vor dem Riesengebirge abhoben und deren Mauern weit aus dem umgebenden Bodennebel in die Höhe ragten. Von Tomals Standort sahen die Ordenshäuser aus, als schwebten sie über den Wolken auf ein Kissen gebettet.
Der Lesvaraq blieb abrupt stehen, zitterte am ganzen Leib und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Ordenshäuser. Er hatte begriffen, warum es plötzlich so still in ihm geworden war. Das Gleichgewicht hatte aufgehört zu streiten. Tomal wollte es noch nicht wahrhaben.
»Dann stimmt es also doch!«, sagte er in Gedanken zu sich selbst, »Madhrab und Solatar haben eine Seite der Macht in mir ausgelöscht.«
Aber welche? Der Lesvaraq hätte erleichtert sein sollen. Immerhin hatte er die Begegnung und den Kampf mit seinem leiblichen Vater genau aus diesem Grund gesucht. Er hatte festdaran geglaubt, dass ihn der Kampf in seinem Inneren früher oder später in den Wahnsinn treiben würde. Doch nun fühlte es sich überhaupt nicht so an, als hätte er an Stärke und Selbstvertrauen gewonnen. Im Gegenteil, die Leere und Einsamkeit waren unerträglich. Die Einsamkeit und die Trauer über den Verlust einer Seite seiner selbst waren schrecklicher als die innere Zerrissenheit, die ihn zuletzt getrieben hatte. Wie sehr hatte er sich nach der Begegnung mit Madhrab gesehnt. Statt Erlösung hatte Tomal jedoch nur Schmerz gefunden.
Tomal sank auf die Knie, weinte und grub seine Hände in das Steppengras vor ihm. Mehrmals hintereinander schlug er mit der Stirn auf den Boden, wälzte sich hin und her und hielt sich dabei den Bauch, als plagten ihn Krämpfe. Er schrie aus Leibeskräften. Speichel lief aus seinem Mund, während er untröstlich schluchzte. Der Wahnsinn hatte ihn fest im Griff.
»Sapius«, rief Tomal verzweifelt nach seinem Magier, »wo bist du? Hilf mir!«
Aber Sapius konnte den Lesvaraq nicht hören. Tomal spürte, dass der Magier sich von ihm entfernt hatte. Ihre Verbindung war abgebrochen. Der Zyklus war unterbrochen, ihr Band zerrissen. Sapius war frei.
Tomal schüttelte sich erneut, beruhigte sich jedoch allmählich wieder, drehte sich auf den Rücken, atmete tief durch und starrte gen Himmel.
»Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht «, ging es dem Lesvaraq durch den Kopf. »Der Zyklus! Er wurde beendet. Das kann nicht gut sein. Das Gleichgewicht straft mich für meine Ignoranz. Ich wurde gewarnt und habe nicht auf die Stimmen gehört, die mich von diesem Schritt abhalten wollten.«
Der Lesvaraq schrak hoch. Er wusste jetzt, welche Seite der Macht sich in ihm durchgesetzt hatte. Das Gleichgewicht hatte ihm einen üblen Streich gespielt. Die Dunkelheit war verschwunden und das Licht nahm Tomal voll und ganz in Besitz.
»Warum?«, fragte sich Tomal und gab sich die Antwort gleich selbst: »Es muss der Ausgleich zwischen den Kräften gewesen sein. Die Dunkelheit war offenbar vorherrschend, als Madhrab mir Solatar in den Leib rammte. Wie dumm von mir. Sapius tötete Tallia und schwächte das Licht. Ich besiegte daraufhin den Lesvaraq des Lichts, der seine Macht aufgab, sich mir anzuschließen. Der Tag verlor somit erneut an Kraft. Auch die Saijkalrae stehen für die Nacht. Und meine eigene Macht wuchs. In jenem Augenblick konnte mir Madhrab also nur die Dunkelheit nehmen.«
Tomal hatte sich geirrt. Er hatte sich gegen seinen Willen zum Lesvaraq des Lichts gewandelt.
Eisige Angst kroch in ihm hoch. Er hatte sich doch schon vor langer Zeit für die Nacht und gegen den Tag entschieden. Stets hatte er das Licht verabscheut und in sich bekämpft. Wie sollte er diese Macht fortan annehmen?
Da fiel ihm plötzlich ein, dass er Blyss beauftragt hatte, Kallya zu beseitigen. Das durfte nicht geschehen. Was würde aus ihm werden, würde auch dieser Zyklus gewaltsam unterbrochen?
Tomal musste das Gefäß dringend erreichen und aufhalten. Blyss durfte keinen Erfolg haben. Der Lesvaraq rief nach dem Gefäß. Aber Blyss blieb stumm.
»Verdammt«, dachte Tomal deprimiert, »alle haben mich verlassen!«
Der Lesvaraq musste umdenken. Wer waren seine Verbündeten, wer seine Gegner und wer stand für die Nacht, die er doch selbst vertreten wollte? Stand Sapius nun gegen ihn? Konnte er Blyss weiterhin vertrauen oder war auch dieses Bündnis des Blutes mit seiner Wandlung dahin? Warum meldete sich das Gefäß nicht? Welche Völker würden ihn unterstützen? Die Nno-bei-Maya waren von jeher dem Licht zugewandt,
Weitere Kostenlose Bücher