Kryson 05 - Das Buch der Macht
empfangen.
Ein metallisch klingendes Weinen drang plötzlich an das Ohr des Lesvaraq.
»Das muss der ungeduldige Blutgesang des Seelenschwertes Solatar sein, das sich darauf freut, bald nach meiner Seele zu greifen«, dachte Tomal.
Plötzlich kamen dem Lesvaraq Zweifel. Das Schwert hörte sich nicht danach an, als ob es sich freuen würde.
»Will es mich etwa vor dem entscheidenden Stoß warnen oder drückt es auf diese Weise seine Trauer aus?« Tomal zuckte unwillkürlich zusammen.
Bevor Madhrab zustoßen konnte, sprang Tomal plötzlich zurück und baute einen magischen Schild um sich auf. Der Stoß prallte auf den Schild und glitt ab. Solatar rutschte Madhrab aus der Hand und fiel scheppernd auf den Felsen.
»Was ist los mit Euch?«, fragte Madhrab überrascht. »Habt Ihr kalte Füße bekommen?«
»Es war der Gesang Eures Schwertes, der mich irritiert hat«, antwortete Tomal.
»Solatar? Das Blutschwert singt immer, bevor es seinen Durst am Blut seiner Feinde stillt.«
»Es gehorcht Euch nicht mehr, nicht wahr?«, wollte Tomal wissen.
»Nicht mehr so wie früher«, gab Madhrab zu.
»Ihr habt Eure Gabe verloren«, stellte Tomal fest, »das ist allerdings eine interessante Neuigkeit.«
Was geschah mit der Gabe, wenn Madhrab sie nicht mehr weitertrug?, fragte sich der Lesvaraq. War die Gabe der Kojos nun frei geworden und suchte sich einen würdigen Nachfolger in den Reihen der Nno-bei-Maja? Oder kehrte sie zu ihrem ursprünglichen Träger Gahaad zurück, sobald dieser sein Herz und sein Gehirn wiedererlangte? Vielleicht sollte sie fortan auch Tomal gehören. Immerhin war er von Madhrabs Blut und damit ein direkter Nachkomme der Nno-bei-Maya. Ein verlockender Gedanke. Tomal fragte sich, ob es richtig wäre, das Herz und Gehirn des Kriegers nach Kartak zu bringen. Vielleicht wäre es besser, die Gegenstände für sich selbst zu beanspruchen und dadurch die Gabe des Kriegers von den Kojos zu erhalten.
Sollte Gahaad doch in den Schatten bleiben, dachte Tomal bei sich. Dem Lesvaraq lag an dem Krieger nichts. Welches Interesse sollte er daran haben, den ersten Krieger Saykaras zu befreien und ins Leben zurückzurufen? Ulljans Schuld tilgen? Tomal fühlte sich nicht dafür verantwortlich, was die Lesvaraq vor ihm einst angerichtet hatten. Sie mochten sich vielleicht einen Geist teilen, mehr aber auch nicht. Er war Tomal und traf seine eigenen Entscheidungen. Sollte er Gahaads Rückkehr nur zum persönlichen Vergnügen der Königin des verlorenen Volkes ermöglichen?
»Nein, soll sie sich doch einen anderen Lustknaben suchen!«, dachte Tomal. »Mit der Gabe wäre ich unschlagbar. Sie und ihr Volk würden mir zu Füßen liegen. Saykara hätte keine andere Wahl, als sich mir zu unterwerfen und mich als ihren ersten Krieger anzuerkennen.«
Der Lesvaraq würde herausfinden müssen, ob ihm die Kojos in ihrer Großzügigkeit die Gabe schenken würden. Es gab einen einfachen Weg, das festzustellen. Solatar! Das Blutschwert konnte ihm zeigen, ob er die Gabe bereits in sich trug. Er musste die Blutklinge nur berühren und aufheben. Gelänge ihm das, würde sie ihm auch im Kampf gehorchen.
Während sich Madhrab nach seinem Schwert bückte, murmelte er einige für Tomal unverständliche Worte.
»Was soll das werden, Vater?«, fragte Tomal lachend. »Führt Ihr Selbstgespräche wie ein seniler alter Greis oder wollt Ihr mich verzaubern?«
Madhrab ließ sich nicht von dem spöttischen Tonfall seines Sohnes beirren und sprach weiter die fremd klingenden Worte vor sich hin.
Die Umgebung veränderte sich abrupt. Es erschien Tomal, als stünde die Zeit still. Die Luft schien sich um ihn herum zu verdichten. Ein Druck lastete auf seiner Brust. Die Beine und Arme wurden schwer, seine Bewegungen immer langsamer. Die Gedanken des Lesvaraq fühlten sich plötzlich wie eine zäh fließende Masse an. Er konnte kaum noch denken.
»Waaas haaat Maaadhraaab geeetaaan?«, ging es Tomal durch den Kopf.
Die Konturen seines Vaters verschwammen vor seinen Augen. Die Bewegungen waren zu schnell. Sie flossen ineinander. Ein erschreckender Gedanke quälte sich wie eine Schnecke durch sein Gehirn.
»Taaar…saaa…laaa.«
Sein Vater hatte ihn reingelegt und das Tarsalla beschworen,die unfassbare Fähigkeit der Bewahrer, die Zeit in ihrer Umgebung zu ihren Gunsten zu verlangsamen. Der Lesvaraq wollte sich dagegen zur Wehr setzen, aber er war nicht in der Lage, schnell genug zu denken oder seine Magie einzusetzen.
Die Stimme seines Vaters
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