Kryson 06 - Tag und Nacht
sie und gib ihnen ein paar Tropfen des Elixiers, das ich für dich auf dem Pflanztisch bereitgestellt habe.«
»Ja, Sapius. Ich werde alles richtig machen. Mach dir keine Sorgen«, antwortete Kaschta, »ich habe oft genug zugesehen.«
»Ich mache mir aber Sorgen«, sagte Sapius, »weißt du, wie viele Sonnenwenden mich die Aufzucht der Candallee gekostet hat?«
»Nein, wie viele waren es denn?«, zog Kaschta neugierig die Augenbrauen hoch.
»Hm … ich weiß nicht mehr genau«, brummte Sapius.
Kaschta hatte keine Ahnung, wie alt Sapius wirklich war. Die Vorstellung einer halben Ewigkeit war nur schwer greifbar für einen Normalsterblichen, der in einem Leben höchstens einhundert Sonnenwenden erleben durfte. Sie war sogar für Sapius fast unbegreiflich. Wie sollte er dem Jungen erklären, dass er schon mehr als zehntausend Sonnenwenden auf dem Buckel hatte und das Ende wahrscheinlich noch lange nicht in Sicht war?
Sollte Kaschta ruhig in dem Glauben bleiben, dass Sapius zwar deutlich älter als sein Schüler selbst war, aber nach dessen Vorstellung vielleicht nur einige Spannen, höchstens dreißig bis vierzig Sonnenwenden. Außerdem musste er nicht wissen, was ihm möglicherweise selbst bevorstand, sollte er eines Tages das Erbe des Magiers antreten. Die Vorstellung würde Kaschta gewiss ängstigen. Womöglich würde er die Ausbildung abbrechen und den Magier verlassen. Jedenfalls brauchte er es jetzt noch nicht zu wissen. Die Zeit würde kommen, in der Sapius ihm die Wahrheit sagen musste.
»Wie lang wirst du wegbleiben?«, wollte Kaschta wissen.
»Ein paar Monde«, antwortete Sapius, »vielleicht eine Sonnenwende. Ich habe vor, für eine Weile bei den Tartyk zu bleiben.«
»Na toll«, murrte Kaschta, »und ich darf hier die ganze Arbeit allein machen. Niemand hilft mir dabei und ich kann mich mit keinem unterhalten. Die Pflanzen versorgen, aufpassen, die Hütte putzen, dein Zeug waschen, Kräuter sammeln, Elixiere herstellen, Magie lernen und …«.
»Junger Freund …«, Sapius holte Luft, erhob mahnend den Zeigefinger und sackte dann wieder in sich zusammen. Es hatte keinen Zweck, seinen Schüler zu tadeln. Dem Jungen stand eine lange Zeit der Einsamkeit bevor, in der er nur mit den Pflanzen und ein paar Felsenfreunden reden durfte, »… vergiss nicht, den Pflanzen Wasser zu geben. Sie sind immer so durstig. Füttere unsere Tiere und halte sie jeden Tag sauber, sie werden es dir danken und leisten dir Gesellschaft.«
»Ja, ja«, seufzte Kaschta.
»Und Kaschta«, Sapius sah seinen Schüler mit strengem Blick an.
»Ja?«
»Lass die Finger von meinem Buch!«
»Von welchem der vielen Bücher redest du?«, fragte Kaschta mit einem aufgesetzten Unschuldsgesicht.
»Du weißt genau, von welchem Buch ich rede. Das dickste Buch in meiner Sammlung, in Leder gebunden. Es trägt den Titel, den du niemals in der Gegenwart des Buches aussprechen darfst.«
»Ach … du meinst das Buch … das Buch der Macht?«
»Denk nicht einmal daran, es zu berühren. Haben wir uns verstanden?«
»Sicher doch«, nickte Kaschta.
»Nicht einmal, wenn dir langweilig sein sollte oder du meinst, deine Neugier nicht mehr zügeln zu können. Niemals, hörst du, niemals wirst du das Buch anfassen und darin lesen.«
»Ich habe dich verstanden, Sapius«, sagte Kaschta.
»Niemals!«, wiederholte Sapius.
»Jaahaa!«, Kaschta verdrehte genervt die Augen.
Sapius sah seinen Schüler mit durchdringendem Blick an. Dahinter lag eine unausgesprochene Drohung. Die Dunkelheit schimmerte durch Sapius’ Augen.
»Wehe dir … es gibt nichts Gefährlicheres.«
»Sapius, bitte! Hör auf. Ich werde das Buch nicht anfassen.«
»Versprich es.«
»Ich verspreche es.«
»Schwöre es!«
»Ich schwöre es!«
»Bei allem was dir lieb und heilig ist. Bei deinem Leben und deiner Seele.«
»Sapius …« Kaschtas Blick war flehend.
»Nun mach schon«, beharrte Sapius, »ich will es aus deinem Mund hören.«
»Na gut«, gab Kaschta schließlich nach, »ich schwöre es beim Leben meiner Mutter, meines Vaters und meiner Liebsten Maya, die in Posios hoffentlich noch auf mich wartet und sich gewiss fragt, warum ich meine Zeit statt an ihrer Seite mit einem alten, mürrischen und sturen Griesgram verschwende, der mich mit seiner Beharrlichkeit in den Wahnsinn treibt. Dabei wäre ich viel lieber mit ihr zusammen. Ich vermisse sie und ihre heißen Küsse. Ich schwöre bei meinem Leben und meiner Seele, dass ich dein blödes Buch nicht lesen werde. Ich
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