Kryson 06 - Tag und Nacht
bedeutet, dass sich der Tod in der Wirklichkeit auch auf die Vision auswirkt. Interessant wäre, ob das umgekehrt ebenfalls gilt«
, dachte Sapius bei sich.
Er wusste nun, dass er den Visionen nicht hilflos ausgeliefert war, wenngleich das Ergebnis seines Handelns in der Wirklichkeit nicht vollständig vorhersehbar war. Sapius hinkte zu Nachika zurück. Sie machten sich gemeinsam auf den Weg zu Jafdabhs Haus.
*
Solras hatte den Krolak bereits erwartet. Sie empfing den Naiki-Jäger und Gestaltwandler mit offenen Armen hoch oben in den Baumwipfeln der Siedlung. Wie gewohnt war auch Belrod in der Nähe und freute sich wie ein kleines Kind über das Wiedersehen mit seinem Freund und Bruder.
Während andere seines Volkes den Krolak seit Beginn des Fluches mit Misstrauen und offener Abscheu betrachteten und ihn als Gefahr für ihre Sicherheit bezeichneten, war Solras ihm gegenüber immer offen und herzlich gewesen. Ihrem Einfluss und der Treue seines Bruders Taderijmon verdankte er es, dass er in der Siedlung zumindest geduldet wurde. Solras sah in ihm einen Mann, der zwar mit einem dunklen Fluch leben musste, aber die Bestie in sich beherrschte.
Solras hatte keine Angst vor ihm und den Baumwölfen. Mit Metahas uraltem Wissen brauchte sie sich vor nichts zu fürchten. Sie hätte jeden Krolak und Baumwolf mit Leichtigkeit besiegen können. Aber so dachte sie nicht einmal im Stillen, wusste Baijosto. Sie schätzte ihn und vertraute ihm.
»Wir werden uns nicht wieder sehen«, sagte Solras traurig, »das weißt du bereits, nicht wahr?«
»Ich ahne es«, antwortete Baijosto, »es ist ein Gefühl des endgültigen Abschieds.«
»Du hast recht. Das Ende ist nah«, fuhr Solras fort, »ich habe es in meinen Träumen gesehen. Tod und Zerstörung droht unserer Welt. Das Buch der Macht muss gefunden werden. Das Schicksal und die Prophezeiung müssen erfüllt werden. Es gibt kein Zurück. Gleichgültig welchen Preis du bezahlen musst, Baijosto, du darfst nicht zaudern und nicht zögern. Das Buch darf nicht in die falschen Hände geraten. Hilf dabei, es in Sicherheit zu bringen. Das ist unsere einzige Möglichkeit zu überleben.«
»Aber wie kann ich wissen, dass das Buch vor einem Missbrauch sicher ist. Wessen Hände sind die richtigen?«
»Es gibt nur einen einzigen Streiter, der das Buch ohne Gefahr für Kryson und das Gleichgewicht verwahren darf«, meinte Solras, »du weißt, von wem ich spreche. Vertraue deinem Gefühl.«
»Du meinst …«
»Ich denke an unseren gemeinsamen Freund, den Zweifler Sapius. Ja!«
»Weshalb gerade er?«
»Weil er an allem und jedem und am meisten an sich selbst zweifelt. Er trägt eine schwere Last und hat die Verpflichtungen seines eigenen und anderer Leben wieder und wieder angenommen. Sapius übernimmt Verantwortung. Ihn hat das Gleichgewicht dazu auserkoren, das Buch zu verwahren. Metaha wusste das. Ich weiß es. Vertrau mir, Baijosto. Sapius ist der Richtige. Er ist viel stärker und mächtiger, als er selbst glaubt. Er ist ein Altvorderer wie wir. Einer des alten Blutes. Die Drachen gehorchen und vertrauen ihm. Schlag dich auf seine Seite und hilf ihm.«
»Ich will auf dich hören, Solras. Aber wäre es nicht klug, das Buch für die Naiki zu erringen und dir zu bringen? Du bist weise. Ich vertraue dir mehr als Sapius. Immerhin sind Belrod und ich zu zweit, wir könnten es mit vereinten Kräften schaffen.«
»Nein, Baijosto. Du bist nicht stark genug, der Versuchung des Buches zu widerstehen, und ich … ich könnte es selbst mit den Kräften der Natur und der Hilfe des Waldes nicht lange genug beschützen. Belrod könnte es zwar gefahrlos mit sich herumtragen, aber er versteht den tieferen Sinn dahinter nicht. Er würde es vergessen und wieder verlieren. Ich habe auch dies in meinen Träumen gesehen. Sapius muss es bekommen, kein anderer, sonst sind wir alle verloren. Und nun geh, Baijosto. Nimm Belrod mit dir und gib auf ihn acht. Ihm darf kein Unheil geschehen. Er ist das Teuerste, das wir Naiki haben. Belrod hat das beste und treueste Herz von uns allen.«
»Ich weiß, Solras. Solange ich lebe, wird ihm nichts Schlechtes widerfahren. Das verspreche ich.«
»Versprich nichts, was du nicht halten kannst, Baijosto. Denk nur immer daran, wie wertvoll Belrod für uns ist.«
»Leb wohl, Solras. Ich liebe dich und habe dich immer geliebt.«
»Ich weiß«, flüsterte Solras.
Solras zog den Naiki-Jäger an sich, umarmte ihn und küsste ihn lange zum Abschied auf den Mund. Sie rief
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