Kryson 06 - Tag und Nacht
dich in den Schatten verloren. Ich rate dir, den Helm zu tragen, bis du wieder mit dem ersten Krieger der Maya vor mir stehst und deine Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erledigt hast.«
»Ein nützliches Geschenk«, sagte Murhab, »ich danke Euch.«
»Widme dich nun der Aufgabe. Geh zurück in das Reich der Schatten.«
Murhab setzte den Helm auf, verbeugte sich und drehte sich um. Das Portal stand noch immer offen. Er ging hindurch und befand sich wieder im Reich der Schatten.
Jetzt kannte Murhab den wahren Grund für den Zorn der Schatten. Er hörte das wütende Kreischen der Schatten hinter ihm, die von Saykara festgehalten wurden. Offensichtlich wollte ihm die Königin einen Vorsprung vor den Schatten verschaffen, die das Gespräch mitgehört hatten und alles andere als einverstanden waren.
»Die Schatten hassen mich für das, was ich vorhabe«
, dachte Murhab,
»sie sind noch lange nicht alle durch das Tor ins Vergessen gegangen. Die meisten von ihnen wurden zu Saykara gerufen. Der Sieg des Bewahrers war vergebens. Sie haben sich zu früh gefreut.«
Murhab wanderte durch das verlassene Reich der Schatten. Es war ein eigenartiges Gefühl, allein durch die grauen und kahlen Gänge zu laufen. Die Kammern entlang des Weges standen leer. Kein Flüstern, kein Fauchen und kein Zischen. Nichts außer ihm selbst bewegte sich. Ihm fiel auf, dass er keinen Schatten warf. Weder auf den Boden noch an die Wand, obwohl eine schummrige Beleuchtung vorherrschte. Ein eigenartiges, graues und fahles Licht, das sich nur wenig von der restlichen Umgebung abhob. Aber das Licht mochte täuschen. Im Grunde war in diesem Reich der Toten alles nur grau in grau.
Plötzlich kam ihm ein merkwürdiger Gedanke, was wäre, wenn es eines Tages kein Reich der Schatten mehr gäbe? Keine Seelen mehr, die sich von ihrem Leben erholten und auf Erlösung hofften. Was wäre, wenn er der Einzige wäre, der nach seinem Tod durch das graue, trostlose Reich der Schatten wandeln müsste? Die Vorstellung ängstigte ihn. Murhab kam sich verloren und einsam vor. Aber er wusste, dass dies nur von kurzer Dauer war. Die Schatten würden zurückkommen und sich erneut vor das Tor stellen, bis sie merkten, dass er es verschlossen hatte und ein Durchkommen unmöglich war. Sie würden toben.
Murhab lauschte. Da war ein Geräusch. Ein Klang, der ihm seltsam vertraut vorkam.
»War das nicht …?«
, ging es ihm durch den Kopf, als er leise Töne vernahm.
»Natürlich … ich höre Flötenspiel. Madsick.«
Murhab änderte die Richtung und ging der Musik nach, die durch die Gänge huschte und sich wie ein feines Gespinst über das Reich der Schatten ausbreitete. Es war das einzige Geräusch, das zu hören war. Es wurde lauter, je weiter Murhab dem Gang folgte, aus dem er das Flötenspiel hörte. Der Kapitän kam an eine Zelle, die mit fein gearbeiteten, dicht nebeneinander angebrachten Gitterstäben verschlossen war. Die Gitterstäbe sahen aus wie die Saiten einer Leier. Als er eine davon berührte, begann sie leicht zu vibrieren und gab einen hellen Ton von sich. Er zog daran und erzeugte damit erneut einen Ton. Mehr erreichte er nicht, gleichgültig an welcher Saite und wie stark er auch zog. Sie unterschieden sich zwar in der Tonhöhe und Klangfarbe, ließen sich jedoch nicht weiter bewegen oder ausreißen. In der Zelle saß Madsicks Geist im Schneidersitz auf einem Tisch und spielte auf seiner Flöte.
»Madsick! Ich bin es«, machte Murhab auf sich aufmerksam.
Madsick setzte die Flöte ab, hob den Kopf und blickte Murhab aus toten Augen an.
»Murhab?«, sagte der Geist leise. »Was habt Ihr hier zu suchen?«
»Nalkaar schickt mich, Euch zu befreien«, antwortete Madsick.
»Ihr tragt einen komischen Helm«, meinte Madsick und kicherte hinter vorgehaltener Hand, »er leuchtet und sieht albern aus.«
»Ich bin nicht zu Späßen aufgelegt«, erwiderte Murhab. »Wie bekommen wir dieses Gitter auf?«
»Gar nicht«, sagte Madsick ruhig. »Ihr könnt ein Lied darauf spielen, das die Schatten erfreut. Aber es lässt sich nicht öffnen.«
»Madsick! Ihr müsst mit mir kommen. Ihr seid kein Schatten und gehört nicht hierher. Nalkaar hält Euren Körper am Leben. Uns bleibt nur wenig Zeit, bis die Schatten zurückkehren. Was soll ich tun?«
»Ich bleibe hier«, antwortete Madsick, »mein Geist wurde gefangen. Ich kann erst dann wieder frei sein, wenn auch die Schatten befreit werden.«
»Was redet Ihr da?«
»Ihr müsst wieder gehen, Murhab!«, meinte
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