Kryson 06 - Tag und Nacht
genutzt. Ein Gedränge gab es dabei nicht, auch wenn die Schatten noch so zahlreich waren.
Murhab war nicht in der Lage zu tun, was die Schatten vermochten. Er konnte zwar wenige Zoll über dem Boden schweben, ohne seine Füße zu bewegen; an Wänden und Decken entlanglaufen konnte er hingegen nicht. Er musste sich daher auf den Boden und seine Füße verlassen.
Der Kapitän blieb abrupt stehen, als er nur wenige Fuß vor sich ein magisches Licht entdeckte. Es war groß und rund, größer als das Tor zum Nebel des Vergessens. Der äußere Rahmen leuchtete in einem hellen Rot, während der innere Teil aus einer Art Gallertmasse zu bestehen schien, die in allen Farben glitzerte und in einem gleichmäßigen Rhythmus pulsierte. Die Schatten stürzten sich in die Masse und verschwanden darin.
Murhab nahm an, dass es sich um Tor oder Portal in eine andere Welt handeln musste. Er war neugierig, wo es hinführte, und näherte sich vorsichtig dem leuchtenden Ring. Indem er einen Finger vorstreckte, berührte er die Masse in der Mitte des Rings. Kaum hatte er sie berührt, spürte er einen starken Sog, der ihn unweigerlich hineinzog. Murhab versuchte noch, sich dagegenzustemmen, aber er wurde von der pulsierenden Masse verschluckt.
Der Ring war tatsächlich ein Portal, wie Murhab erstaunt feststellte. Er befand sich an einem Ort, an dem er noch nie zuvor gewesen war. Es musste eine Höhle sein, die jedoch an Wänden und Decken von zahlreichen Kristallen beleuchtet war.
Murhab bemerkte in der Nähe eine Frau, die auf einem großen, reich verzierten Stuhl saß und von Wachen umgeben war. Sie war wunderschön und sie strahlte aus ihrem Inneren heraus. Ihr Licht blendete ihn. Der Kapitän wusste sofort, dass nur eine Königin oder eine Hexe eine solche Ausstrahlung hatte. Vielleicht war sie beides zugleich. Er würde es herausfinden.
Die Schatten sammelten sich um die Frau, umringten und umtanzten sie. Sie sang leise vor sich hin. Ihre Stimme war lieblich und betörend zugleich. Murhab wagte sich näher heran, vermied es jedoch aus Vorsicht, ihr oder den Schatten zu nahe zu kommen, um nicht an dem Reigen mitmachen zu müssen und aufzufallen.
Ihr Blick streifte ihn nur kurz. Dieser Moment genügte, um ihn beinahe in Ehrfucht erstarren zu lassen. Murhab versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Aber es war zu spät. Sie hatte ihn bemerkt.
Die Frau musste unglaubliche Sinne besitzen, wenn sie ihn so zielsicher zwischen den Schatten erkannt hatte. Schon im nächsten Moment kehrte ihr Blick wieder zu ihm zurück und blieb dieses Mal länger auf ihm haften. In einer anmutigen Bewegung hob sie ihre Hand und zeigte mit dem Finger auf ihn.
»Du! Komm zu mir und zeig dich. Du kamst mit den Schatten, bist aber kein Schatten«, rief sie ihm zu. »Wer oder was bist du?«
Die Schatten in ihrer Nähe fauchten und kreischten entsetzt. Sie sprach ihn offen vor den anderen Schatten an. Bevorzugte sie ihn? Sah sie in ihm einen Gegner oder gar einen Attentäter? Was wollte sie von ihm? Murhab hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl. Er konnte die Wut der Schatten am eigenen Leib spüren. Sie fühlten sich durch seine Anwesenheit betrogen. Hätte es die Frau auf dem Stuhl zugelassen, die Schatten hätten ihn in Stücke gerissen.
Murhab näherte sich ein paar Schritte. Gerade so weit, dass sie ihn besser sehen konnte und er sie umgekehrt auch. Allerdings vermied er den Kontakt zu den Schatten.
»Wie sie angezogen ist und sich gibt«
, dachte Murhab,
»sie muss eine Königin sein, die es gewohnt ist, Befehle zu erteilen und bedient zu werden.«
»Sieh an, sieh an«, sagte die Frau, »jetzt überraschst du mich doch. Zieh deine Kapuze ab!«
Ihre Befehle mussten ausgeführt werden. Daran gab es keinen Zweifel. Sie war sehr stark und mächtig. Es war unmöglich, ihren Wünschen und Befehlen zu widerstehen. Murhab kannte jedenfalls niemanden, dem dies gelingen könnte.
»Ein Todsänger, nicht wahr?«, grübelte die Frau.
»Das bin ich«, antwortete Murhab, »wollt Ihr, dass ich für Euch singe?«
Die Königin sah ihn im ersten Augenblick verblüfft an, begann dann allerdings, lauthals zu lachen.
»Du hältst deine Zunge schön still und den Mund fest verschlossen. Ich will keinen gesungenen Ton von dir hören! Nicht in meiner Stadt. Versuch es nur und es wird dir schlecht ergehen.«
»Verzeiht … aber wer seid Ihr?«, fragte Murhab.
»Du wirst mich mit ›meine Königin‹ ansprechen. Hast du das verstanden?«
»Sehr wohl, meine
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