Kryson 06 - Tag und Nacht
Madsick. »Müht Euch nicht damit ab, das Gitter zu öffnen. Es wird Euch nicht gelingen.«
»Aber wieso? Ich verstehe nicht.«
»Es geht mir gut, Murhab. Ich habe alles, was ich brauche: meine Flöte und meine Musik. Die Schatten nahmen mich gefangen, weil ich gefährlich bin. Ich wurde in der Dunkelheit eines Verlieses geboren. Mein Geist ist die Ausgeburt böser Gedanken. Ihr könnt Euch das nicht vorstellen, aber der Herr der Grube verdarb mich einst. Er schuf ein Werkzeug des Bösen, als er mich berührte und Madsick auslöschte. Mit meiner Musik kann ich die Schatten aus ihrem Reich befreien und die Flammen der Pein unter die Lebenden tragen. Das darf nicht geschehen. Das Gefängnis und die Saiten schützen mich und Kryson vor der schlimmsten Verderbnis. Selbst wenn Ihr einen Weg wüsstet, das Gitter zu öffnen, Ihr dürftet mich nicht befreien. Ich spiele hier nur für mich und die Schatten, nicht für das Böse und die Befreiung der Flammen.«
»Was ist mit Nalkaar? Er braucht Euch und Eure Kunstfertigkeit für seine Musik.«
»Der Todsänger ist besessen von Perfektion. Er muss lernen, ohne mich zu singen. Er hat mich nur benutzt, wie zuvor der Herr der Grube. Das ist nun vorbei. Nalkaar braucht mich nicht. Mein Geist bleibt auf ewig in dieser Zelle gefangen. Lebt wohl, Murhab. Ich weiß zu schätzen, was Ihr für mich tun wolltet. Sagt Nalkaar, ich sei verloren. Tötet meinen Körper, dann werde ich mit etwas Glück zu einem Schatten und finde vielleicht eines Tages Ruhe im Nebel des Vergessens. Das wäre schön. Ich müsste mich nicht mehr vor mir selbst fürchten.«
Murhab schüttelte den Kopf. Dem Flötenspieler war nicht mehr zu helfen und der Todsänger hatte nicht die Zeit und die Fähigkeiten, ihn aus seinem Schattengefängnis zu holen. Sollte Nalkaar doch ohne Madsick auskommen. Wenn alles gut ging, würde er den Todsänger und seinen Fluch ohnehin los sein und ihm hoffentlich nie wieder begegnen.
Er verabschiedete sich und ließ Madsick in der Zelle. Als er durch den Gang zurücklief, begleitete ihn das virtuose Flötenspiel des Musikanten durch das Reich der Schatten. Seine Füße trugen den Todsänger leicht und tänzelnd beinahe wie von selbst in die Arena und vor das Tor zum Nebel des Vergessens. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er noch einige Drehungen vollführte, bevor er schließlich – den Takt und die Musik widerstrebend ignorierend – stehen blieb und sich das Tor näher ansah. Es war nichts Besonderes zu erkennen. Das schwere Eisentor war zwar von oben bis unten mit fremdartigen Runen und Totenköpfen verziert, unterschied sich aber ansonsten nicht von anderen Toren, die er schon auf Ell in Palästen oder auf Burgen gesehen hatte.
Murhab öffnete die Flügeltüren und schritt erhobenen Hauptes hindurch. Er hatte keine Vorstellung von dem, was ihn dahinter erwartete.
Er war überrascht, als er auf der anderen Seite einen gewaltigen Balken, Ketten und zahlreiche Schlösser entdeckte. Den Balken konnte er mit erstaunlicher Leichtigkeit in die dafür vorgesehene Vorrichtung schieben, die Ketten einhängen und das Tor damit verriegeln.
In den Schlössern steckten Schlüssel, als hätte sie jemand für ihn bereitgehalten. Er brauchte sie nur umzudrehen und abzuschließen. Wer auch immer für dieses Tor zuständig war, hatte daran gedacht, es zu sichern und dauerhaft zu schließen. Hier kam kein Schatten durch, solange das Tor verschlossen blieb.
»Anscheinend wurde den Schatten schon häufiger der Weg in den Nebel des Vergessens verweigert«
, dachte Murhab,
»aber wer entscheidet, wann die Schatten in ihrem Reich bleiben und wann sie vergessen dürfen?«
Gerade als Murhab das Tor hinter sich zuzog, von innen verriegelte und verkeilte, kamen die ersten Schatten zurück und rüttelten wütend an der anderen Seite. Er konnte sie kreischen und zischen hören.
»Zu spät«
, dachte Murhab bei sich,
»ich war schneller.«
Murhab lauschte den zornigen Stimmen auf der anderen Seite des Tores.
»Es war alles vergebens, Warrhard«, fauchte die Stimme eines Schattens.
»So dürft Ihr das nicht sehen, Corusal«, antwortete der Angesprochene, »Madhrab hat getan, was er konnte und den Torwächter ins Nichts geschickt. Er hat es für uns und alle anderen Schatten getan. Wir sind stark genug und können es wieder schaffen, auch ohne Madhrabs Hilfe. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn unser Freund inzwischen ins Land der Tränen gegangen ist. Hoffen wir, dass ihm das
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