Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer
wartet, bis es richtig fest wird.
Anlage III
Wodka
Sollte jemand auf die Idee kommen, ein Weltkochbuch zu schreiben, wird er mit einer Menge Klischees konfrontiert. Jedes Kind weiß inzwischen, dass die Italiener keinen Tag ohne Nudeln aushalten, Franzosen keinen Frosch an sich vorbeispringen lassen können und Deutsche ohne Kebap sofort verhungern. In dieser Vorurteilsgastronomie haben meine Landsleute keinen schlechten Stand. Mit Kaviar und Pelmenis beweisen sie einen feinen und etwas ausgefallenen Geschmack. Nur leider stimmen die Vorurteile mit der Realität nicht überein. Kaviar ist nicht nur im KaDeWe, sondern auch in Russland ein teurer Spaß. Und auch Pelmenis, eine einfache Teigware mit allerlei Füllungen, kommen seltener als Wurst oder Nudeln auf den Tisch. Die eigentliche Esskultur in Russland ist eine Trinkkultur. Das einzige Gericht, das dem weit verbreiteten Klischee über die Russen und deren nationaler Küche entspricht, ist der Wodka, der in Russland tatsächlich oft als Hauptspeise behandelt wird. Eine der ersten Anekdoten, die ich darüber in meiner Kindheit gehört habe, war die, wie zwei Männer in einem Restaurant einen Liter Wodka bestellen.
»Möchten die Herren auch etwas zu essen?«, fragt der Kellner. »Den lieben Wodka würden wir auch gerne essen«, antworten seine Gäste.
Einiges in der russischen Geschichte deutet darauf hin, dass diese Anekdote kein bloßer Witz ist. Wenn man den Geschichtsbüchern glauben darf, sind die ersten Kochrezepte in Russland im elften Jahrhundert aufgetaucht. In ihnen ging es darum, wie man Chleb (dunkles Roggenbrot) backt und Kascha (Perlgraupenbrei) kocht. Dazu aßen die Russen damals Pilze und Beeren, ab und zu auch Fleisch, jedoch nach der Christianisierung Russlands immer weniger, weil fast jeder zweite Tag zum Fastentag erklärt wurde. Zur gleichen Zeit wird aber der Schnaps immer öfter erwähnt, den man damals aus demselben Getreide wie Roggenbrot und Kascha herstellte. Aus den alten Chroniken des elften Jahrhunderts geht bereits hervor, dass der Bau vieler Städte in Russland mit einer Schnapsbrennerei begann, um für die richtige Stimmung bei den Ansiedlern zu sorgen. Der selbst gebrannte Schnaps hieß zu jener Zeit noch nicht Wodka, sondern Brotwein, Kochwein oder einfach nur Wein. Doch dieser Wein hatte schon damals einen großen Einfluss auf die Bevölkerung und die Entwicklung der russischen nationalen Küche.
Zu Zeiten der Tatarenherrschaft kamen sehr viele Tataren und Mongolen nach Russland. Sie aßen Pferdefleisch, gegrillte Hamsterund tranken Tee. Dank dieser einfachen, aber kalorienreichen Ernährung konnten die Horden des Dschingis Khan im dreizehnten Jahrhundert in kürzester Zeit große Territorien unter ihre Kontrolle bringen. In Russland wurden die Horden mit Brotwein konfrontiert, woraufhin sie sich unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen wie von selbst auflösten. Ein Teil der Horde ritt mit dem neuen Rezept nach Hause zurück, die anderen blieben für immer in der russischen Steppe hängen. Sie gründeten die autonome Republik Tatarstan, die es heute noch gibt. Auf jeden Fall waren sie als militärische Bedrohung nicht mehr ernst zu nehmen. Dafür übernahmen die Russen das Teetrinken von ihnen.
Ein paar Jahrhunderte später griff die französische Armee Russland an. Der Erste Vaterländische Krieg machte die Vorzüge der russischen nationalen Küche noch einmal deutlich: Die gut bewaffneten und organisierten Franzosen, die sich von kalorienreichen Omeletts und Koteletts ernährten, waren im harten russischen Winter den bäuerlichen Partisanen nicht gewachsen, die sich hauptsächlich von hochprozentigem Selbstgebranntem und Tee ernährten. Sie froren nicht, sondern schwitzten. Mit Äxten und Mistgabeln bewaffnet, verdroschen sie die Franzosen als eine Art Trinkvergnügen zum Wodka, der damals immer noch Wein hieß. Napoleon musste fliehen. Er hatte die russische Küche unterschätzt. Sie wurde aber durch dieses geschichtliche Abenteuer erneut bereichert: Champagner und Kognak haben sich seit der Zeit in Russland fest etabliert.
Das zwanzigste Jahrhundert brachte die Große Oktoberrevolution und damit erneut eine Bereicherung der russischen Küche. Die Rezepte kamen nun von überall: Pfefferschnaps aus der Ukraine, Reisschnaps aus Usbekistan, Tschatscha – ein Weintraubenschnaps – aus Armenien und Fischschnaps aus Jakutien. Aber auch der Wodka, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Wein hieß, entwickelte sich immer
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