Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer
des dialektischen Materialismus, unterliegt. Nichts entwikkelt sich dort einfach so, sondern das eine dialektisch aus dem anderen. Wenn ein Deutscher in Russland zum Beispiel mit dem Studium anfängt, dann ist auch die Eisenbahn mit abschließender Heirat nicht weit. Fängt er dagegen bei der Eisenbahn an, dann ist ein Studium mit Heirat quasi vorprogrammiert. Egal, wie es anfängt, es läuft immer auf das Gleiche hinaus: Man bekommt einen Russenknall.
Wenn die betreffende Person nach Hause zurückkehrt, pachtet sie eine stadttypische Eckkneipe, dekoriert sie mit hundert Holzpuppen und Wodkaflaschen, nennt sie »Balalaika«, »Samowar« oder ganz ausgefallen »Perestroika« und lässt die Ehefrau kochen: Bortsch, Pelmenis und Kaliningrader Klopse zu Wodka – das ist die russische Küche in Deutschland.
Die echte russische Küche, mit Singen und Hopsen statt Klopsen findet bei uns in Berlin unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, in einem fast schon untergründigen Lokal am Ende des Kudamms, neben einer Tankstelle und einer Brücke. Wenn man an diesem Laden vorbeigeht, sieht man nur eine allein stehende Baracke mit geschwärzten undurchsichtigen Schaufenstern. Man würde das protzige Innere dahinter nicht vermuten. Die meiste Zeit hat das Restaurant geschlossen, aber an manchem Samstag zu später Stunde wundert sich der zufällige Passant über die verschwitzten russischen Männer in schicken Anzügen und die aufgehübschten Damen in Abendkleidern, die mit lautem Lachen aus dem Innern des Lokals an die frische Luft strömen. Haben die etwa Drogen genommen?, würde ein unerfahrener Beobachter rätseln. Doch der erfahrene weiß, dass diese Leute von der russischen Küche gekostet haben, der einzigen Küche der Welt, bei der das Essen selbst unwichtig ist.
Die Russen gehen nämlich nicht ins Restaurant, um zu essen oder zu trinken – das können sie auch zu Hause. Sie gehen aus, um zu feiern. Und dann muss alles, was sie sich zu Hause aus Sicherheitsgründen nicht trauen, erlaubt sein: Es darf gesungen, gebauchtanzt, am Kronleuchter geschwungen werden.
Die wichtigste Zutat der russischen Küche ist die Laune des Kochs. Hat er einen guten Tag, kann er einen mit Kaviar gefüllten Stör aus dem Ärmel zaubern und mit Spießen am Tisch jonglieren, Wodka schlucken und Feuer spucken. Wenn er einen schlechten Tag hat, kann es sogar noch abenteuerlicher werden. Man muss auf jeden Fall immer alles aufessen, weil die russischen Köche sehr nachtragend sind.
In ein solches Restaurant sollte man am besten zusammen mit irgendwelchen Russen gehen, am besten einen Tisch an der Wand nehmen, damit niemand von hinten an einen herankommen kann, am besten vor dem Besuch irgendwo an der Ecke einen kleinen Schnaps trinken und einen Tag davor nichts essen. Dann Mut sammeln und einfach eintreten, die Menschen freundlich begrüßen und sich diskret räuspern. Nur wenn man direkt vor dem Lokal zehn oder mehr nagelneue schwarze BMWs stehen sieht, sollte man nicht hineingehen, sondern sofort auf die andere Straßenseite laufen und so tun, als wollte man ganz woanders essen, es aber in der nächsten Woche noch einmal versuchen. Sie können aber auch gleich bei sich zu Hause ein russisches Essen organisieren: viel Alkohol und Salzgurken kaufen, Freunde anrufen, die Musik laut aufdrehen, die Nachbarn einladen – fertig.
Das letzte Mal war ich in Berlin russisch essen, als mein Vater siebzig wurde. Zu Hause gemütlich mit der Familie zusammen zu feiern, fand er zu kleinkariert, nein: Er wollte protzen und lud die ganze Verwandtschaft in das bereits erwähnte authentische Restaurant am Rande der Stadt ein. Der Laden galt seit Jahren als eine Art geheime Zaubertür in die Vergangenheit, für Touristen und Einheimische nicht sichtbar. Russen kochen dort für Russen und machen sie glauben, sie wären nie ausgereist. Ein paar Mal war ich bereits dort gewesen, hatte diese magische Verbindung genossen und jedes Mal erleichtert aufgeatmet, wenn ich in das nächtliche Berlin zurückgekehrt war. Zuletzt schien diese Zaubertür jedoch technische Probleme zu haben: Ich rief mehrmals dort an, um herauszufinden, an welchem Tag sie geöffnet hatten, doch nie ging jemand ans Telefon. Schließlich gelang es mir aber doch, den einzig möglichen Termin für unseren Zeittransport zu vereinbaren – einen Samstag.
Der Abend fing ganz normal an. Außer uns saßen noch etwa ein Dutzend Gäste im Restaurant; an einem Tisch feierte ein Junge namens Micha mit
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