Kuckuckskind
gewesen.
Inzwischen kramt meine Mutter in Schubladen und Schränken herum und zieht triumphierend den einen oder anderen Gegenstand hervor. Mit Befremden beobachte ich, wie sie Gernots Nussknacker in ihre Handtasche steckt. In meinem Arbeitszimmer stehen drei hölzerne Regale, die Mutter [52] samt Inhalt ebenfalls in den Lieferwagen verfrachten lässt. Bis zu diesem Punkt bin ich mit ihrer Regie einverstanden, aber für alle anderen Dinge brauche ich noch Zeit. Wie soll man sofort entscheiden, ob man dieses oder jenes Teil gleich einkassieren oder lieber Neues kaufen soll.
Das sieht Mutter sogar ein und schlägt vor: »Es reicht für den Moment. Wir fahren jetzt in dein neues Zuhause, damit meine lieben Freunde hier fertig werden und wieder los können. Den Kleinkram kriegen wir auch in meinem Wagen unter.«
Ihre lieben Freunde lassen beim Ausladen die Vitrine fallen, wobei die geschliffenen Glastürchen zu Bruch gehen. Mutter achtet gar nicht darauf, denn sie kann gar nicht schnell genug die Treppe hinaufhasten, so begierig ist sie auf die erste Inspektion. Zufrieden tritt sie schließlich auf den Balkon und schaut hinunter. »Ein schöner Garten! Darfst du ihn mitbenutzen? Und was sind das überhaupt für Leute, bei denen du untergekommen bist?«
»Anständige Leute, Mutter, richtig nette. Der Sohn ist ein Schüler von mir. Auf den Garten kann ich verzichten, der Balkon genügt.«
Sie zückt ihr Portemonnaie und bezahlt die Helfer, ich lege noch ein Trinkgeld dazu.
»So, auf zur zweiten Runde!«, kommandiert sie. [53] »Wir beide holen jetzt den Rest. Heute Abend läuft ein Krimi, den ich nicht verpassen darf. Um sieben möchte ich spätestens zu Hause sein.«
Für ihre 70 Jahre ist meine Mutter unermüdlich. Ich bin schon jetzt erschöpft. »Könnten wir das nicht anders organisieren? Ich fahre mit dir nach Bad Dürkheim, übernehme dein Auto für ein paar Tage und kann in Ruhe meine Wahl treffen. Außerdem möchte ich zum Großeinkauf nach Mannheim, da ist es doch praktischer, wenn ich nicht auf die Straßenbahn angewiesen bin.«
Noch nie hat meine Mutter ihren Wagen verliehen, aber erstaunlicherweise ist sie einverstanden. Auch ein so winziger Umzug ist anstrengend, aber sie gibt nicht gern zu, dass sie für heute selbst genug hat.
»Eines musst du mir aber versprechen! Stell dich nicht wieder aus falscher Bescheidenheit so dämlich an wie damals bei der Scheidung!«, sagt sie. »Ein Mann weiß sowieso nicht, wie viele Tischtücher im Schrank liegen, also überwinde dich, und greif zu! Wenn ich das nächste Mal komme, will ich eine gemütliche Wohnung vorfinden und kein Rattenloch.«
Erst zwei Stunden später bin ich aus der Pfalz zurück. Nach monatelanger Abstinenz entkorke ich eine Flasche Deidesheimer Riesling, setze mich an [54] den Küchentisch, skizziere einen Plan aller vier Räume und stelle eine Liste für den folgenden Tag auf.
Am nächsten Morgen will ich mich schon früh aufs Fahrrad schwingen, bis mir einfällt, dass ich heute ein Auto habe. Es ist herrliches Wetter, meine neue Wohnung wird vom Sonnenlicht durchflutet, denn die Räume haben Fenster nach zwei Seiten. Das Arbeitszimmer ist schon fast fertig, denn hier stehen bereits die Regale und der Schreibtisch.
Meine Mutter hat auch den blauen Chinateppich mitgenommen, und er passt ausgezeichnet hierher. Das Ölgemälde, das sie in letzter Minute von ihren langhaarigen Freunden einpacken ließ, konnte ich dagegen noch nie leiden. Die wiederkäuenden Kühe am Bach stammen zwar von meinen Großeltern, aber ich hätte diesen Schinken mit Vergnügen bei Gernot hängen lassen.
Dann fällt mein Blick auf die Akten, die wir gestern mitgenommen haben, und ich erkenne gleich, dass ich einige wieder zurückbringen muss. Besonders die dicken Ordner mit allem, was das Häuschen betrifft. Handwerker-, Wasser- und Gasabrechnungen, Schornsteinfegerbelege, Grundsteuerbescheide und Kostenvoranschläge für ein neues Dach hatte ich hierin sorgfältig abgeheftet. Auch [55] Gernots Versicherungen und seine Krankenkasse betreffen mich nicht mehr. Urlaub steht auf drei anderen Ordnern, die ich mir als Nächstes vornehme. Jetzt kommen mir allerdings die Tränen. Hunderte von Ferienfotos hatte ich im Laufe der Jahre auf schwarzen Karton geklebt, aber auch Postkarten, Reiserouten und Notizen, hatte Briefe von Urlaubsbekanntschaften sorgfältig nach Jahrgängen sortiert. Im Grunde handelt es sich um unsere schönsten Erinnerungen. Damals trug Gernot noch eine
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