Kuckuckskind
Birgit denn schon abgereist?«, frage ich ahnungslos.
»Hat sie es dir nicht erzählt? Gleich am ersten Ferientag ist sie abgehauen, ich glaube, es war der 26. Juli«, sagt Steffen. »Ich fahre erst übermorgen nach Rostock. Birgit wollte ja partout nicht mit, sie besucht stattdessen ihre Freundin Françoise.«
»Glaubst du das wirklich?«, frage ich, und er starrt mich verständnislos an. Ich kann es ihm nicht ersparen. Entschlossen stehe ich auf und spule den Anrufbeantworter zurück. Steffen hört sich leicht [64] belustigt die unterschiedlichen Nachrichten an, bis die bewusste Stelle einsetzt.
Beim ersten Wort seiner Frau fährt er zusammen und richtet sich dann kerzengerade auf. Es verschlägt ihm erst einmal die Sprache, dann verlangt er: »Noch mal!«
Ich wiederhole das Ganze. Wir sehen uns ein paar Sekunden lang wortlos in die Augen.
»Das kapier ich nicht, es muss sich um ein Missverständnis handeln«, sagt er, fast bittend.
»Wohl kaum. Ich glaube, die beiden sind längst in Draguignan und lassen es sich gutgehen.«
Steffen grübelt lange. »Dafür gibt es keinen Beweis«, wendet er ein. »Sie ist wohl tatsächlich dort, aber er könnte doch überall sein, zum Beispiel in den USA . Birgit hat mich gestern angerufen, ich glaube nicht…«
»Lieber Steffen«, unterbreche ich ihn leise, aber scharf, »ich war einmal in einer ähnlichen Situation, weil ich vor unangenehmen Tatsachen allzu lange die Augen verschlossen habe. Man möchte eine Beziehungskrise nicht wahrhaben und macht sich etwas vor. Neulich hast du mir doch selbst erzählt, dass sich Birgit anders verhält als sonst. Kannst du nicht zwei und zwei zusammenzählen?«
»Um Gottes willen, war meine Frau etwa euer Scheidungsgrund?«
[65] »Wer das war, weiß ich bis heute nicht, aber Birgit war es nicht. Im Übrigen – riechst du nichts?«
Steffen schüttelt den Kopf. Aber es ist ja bekannt, dass der männliche Geruchssinn verkümmert ist.
»Zigaretten?«, fragt er. Von uns allen ist Birgit die Einzige, die raucht.
»Nein, nein. Maiglöckchen«, sage ich.
Er steht auf. »Komm, wir bringen jetzt den Apparat in deine neue Wohnung. Danach möchte ich lieber allein sein. Man sollte nichts überstürzen, sondern erst einmal nachdenken. Vielleicht klärt sich ja alles auf.«
Steffen ist nicht der Typ, der sofort ausrastet. Ich hatte die vage Hoffnung, dass er auf der Stelle nach Frankreich rasen würde – wie ein strafender Engel mit Feuer und Schwert. Da habe ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Steffen sagt überhaupt nichts mehr, sondern versinkt in düsteres Schweigen.
Erst als Steffen den Fernseher in meinem künftigen Wohnzimmer abgesetzt hat, bemerkt er: »Deshalb sind wir also nie mehr essen gegangen!«
Da ich nicht genau weiß, wie er das meint, muss er noch einmal den Mund aufmachen.
Nach der Scheidung habe Gernot versucht, die Freundschaft mit Birgit und Steffen [66] aufrechtzuerhalten und einen monatlichen Stammtisch in einem italienischen Restaurant angeregt. Aus irgendeinem Grund habe Birgit nach dreimaliger Schlemmerei die Lust daran verloren. Steffen und Gernot trafen sich bei sporadischen Skatrunden in reiner Männergesellschaft.
»Vielleicht wollten die beiden lieber ohne mich ausgehen«, sagt Steffen und verabschiedet sich.
Über meine neue Wohnung hat er kein einziges Wort verloren.
Es ist zu spät, um heute noch in das Mannheimer Möbelhaus zu fahren, stattdessen begebe ich mich in den Garten meines Vermieters und wässere Rasen und Rabatten. Zum ersten Mal sehe ich mir die Pflanzen genauer an. Das große Beet in der hintersten Ecke erinnert ein wenig an einen Bauerngarten, weil Ringelblumen und Tomaten, Kürbis, Rosen, Karotten, Rhabarber und Kräuter üppig durcheinanderwuchern. Wie bei vielen Menschen übt die Natur einen beruhigenden Einfluss auf mich aus. Ich sitze eine Weile unter einem alten Kirschbaum, beobachte Blattwanzen auf weißen Dahlien, höre dem Abendlied der Amseln zu und vermisse kein Sudoku.
Zum wirklichen Entspannen fehlt mir allerdings die innere Ruhe. Nach zehn Minuten will ich [67] aufstehen und bleibe beinahe kleben, weil die Bank mit Harz und Vogeldreck vollgekleistert ist. Fremde Gartenmöbel schrubbe ich aber nicht.
Von hier aus sieht man auf der Rückseite des Hauses ein Giebelfenster, das ich bisher nicht bemerkt hatte. Im ersten Stock liegt mein zukünftiges Reich, im Parterre wohnt Manuel mit seinem Papa, ob es ganz oben noch weitere Untermieter gibt? Ich verlasse den Garten
Weitere Kostenlose Bücher