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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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dunkle Hornbrille, die er inzwischen durch Kontaktlinsen ersetzt hat. Langsam blättere ich alles durch. Seit wir getrennt leben, hat Gernot nichts Neues hinzugefügt. Zu guter Letzt fällt mir aber auf, dass DRAGUIGNAN 1999 ganz zuoberst abgeheftet ist, wo es überhaupt nicht hingehört.
    Früher, noch vor der Scheidung und Sudoku-Phase, war ich ein fast pedantischer Mensch, es stört mich, dass ich auf einen Fehler in der Registratur stoße. So etwas kann mir doch nicht passieren, ist mein erster Gedanke, aber schon arbeitet das Hirn auf Hochtouren.
    Nicht ich, sondern Gernot muss die Fotos von 1999 herausgenommen und nicht wieder korrekt eingeordnet haben. Ist es reiner Zufall, dass meine Kollegin Birgit ausgerechnet nach Draguignan reisen will? Falls sie es meinem Exmann erzählt hat, [56] könnte er sich an unsere alten Fotos erinnert haben. Das wiederum beweist, dass Steffen und Birgit den Kontakt zu Gernot nie abgebrochen haben. Ob sie sich regelmäßig treffen und zu dritt über mich lästern? Ob Birgit dann zur allgemeinen Erheiterung berichtet, wie ich immer mehr zur grauen Maus mutiere?
    Bei diesen Gedanken hält es mich auf einmal nicht mehr in meiner neuen Wohnung. Ich will den Transport schleunigst hinter mich bringen, um endlich keine Gedanken mehr an frühere Zeiten zu verschwenden. Unverzüglich haste ich zum Auto und fahre zu Gernots Haus, das ich nie wieder liebevoll als unser Häuschen bezeichnen werde.
    Schon gestern ist mir aufgefallen, dass Frau Meising wohl immer noch hier putzt, denn es sieht alles sauber und ordentlich aus.
    Wie meine energische Mutter öffne ich Schränke und Schubladen und packe Wäsche in mitgebrachte Plastiktüten.
    Als das Telefon klingelt, lasse ich es natürlich läuten. Doch es hört und hört nicht auf, bis sich der Anrufbeantworter einschaltet und eine vertraute Stimme sagt: »Hallo, hier ist Steffen. Ab Dienstag bin ich für drei Wochen in Rostock, aber noch verbringe ich die Abende als einsamer Strohwitwer. Wie wär’s mit einer Runde Skat? Gregor würde auch gern mitspielen! Bitte melde dich bald! Tschüs!«
    [57] So ganz genau weiß Steffen offensichtlich nicht über Gernots Urlaubspläne Bescheid, sonst wüsste er schließlich, dass sein Skatpartner längst abgereist ist.
    Inzwischen habe ich einen ansehnlichen Stoß Bettwäsche auf den Esstisch geschichtet und will mich jetzt den Küchen- und Handtüchern widmen. Aber ich bin nicht bei der Sache, denn es meldet sich ein vager Verdacht.

[58] 5
    In letzter Zeit träume ich schlecht. Auf der vergangenen Lehrerkonferenz sprach der Gecko über virtuelle Killerspiele und die Zunahme von grausamen Videos auf Schülerhandys. Zu unseren Aufgaben gehöre auch die Gewaltprävention.
    Immer wieder liest man ja in der Zeitung oder hört es in den Nachrichten, dass Schüler Amok laufen und im Klassenzimmer ein Blutbad anrichten. Obwohl meiner Meinung nach in unserer Schule etwas Ähnliches nicht geschehen könnte, habe ich doch geträumt, dass man mir einen Dolch in den Rücken stößt. Schweißgebadet wachte ich auf und brauchte mehrere Sudokus, um mich zu beruhigen.
    Jedes Mal wenn ich Julian sehe, kommt mir sein Messer in den Sinn, und ich ärgere mich über meine lasche Haltung. Meine Mutter hat schon recht, ich bin nicht energisch genug und kehre Probleme am liebsten unter den Teppich. Nur einmal im Leben bin ich ausgerastet, als ich Gernot mit dieser Schlampe auf dem Sofa vorfand. Damals habe ich überreagiert, weil ich unsere Ehekrise viel zu lange [59] verdrängt hatte. So blauäugig will ich mich in Zukunft nicht mehr verhalten, deswegen bemühe ich mich gerade, einer bösen Ahnung beizeiten auf die Spur zu kommen.
    Im Badezimmer suche ich vergeblich nach einer angebrochenen Packung Tampons, heruntergefallenen Haarnadeln, Festiger oder Ähnlichem. Weder hier noch im ganzen Haus ist etwas zu finden, was auf eine Frau hinweist. Mülleimer und Papierkörbe sind leer, die Spülmaschine ist ausgeräumt, Frau Meising ist mir zuvorgekommen.
    Dann inspiziere ich unsere alten Platten. Meine Lieblingsaufnahmen will ich mitnehmen, ein gewisses Stöhnduett werde ich vernichten. Im Player liegt eine CD , die nicht von mir stammt und die ich mir unverzüglich anhöre.
    Me and my true love will never meet again
On the bonnie, bonnie banks of Loch Lomond
    Unendlich schön und wahnsinnig traurig, finde ich. Vielleicht sollte ich im nächsten Frühling eine Wanderung durch Schottland machen. Und plötzlich weiß ich, was mich die

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