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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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und gehe wieder hinein, aber statt meine Wohnung zu betreten, steige ich ins Dachgeschoss hinauf.
    Die Mansardentür steht einen Spaltbreit offen. Hier liegt allerhand Gerümpel herum: ein hölzerner Schlitten, eine Hutschachtel voller Christbaumschmuck, ein beschädigtes Notenpult sowie ein Klavierhocker und mehrere ausrangierte Blumenkästen. In einem Schrank aus den fünfziger Jahren stapelt sich vergilbte Wäsche, sorgfältig mit roten und blauen Bändchen gebündelt. An den Dachschrägen lehnen zwei Ölgemälde, die meinen wiederkäuenden Kühen in nichts nachstehen. Ein violett-goldener Orden Pour le Mérite baumelt an einem Nagel. Gefüllt mit Groschenheften, Wildwestromanen und Puzzlespielen rostet eine Metallkiste vor sich hin. Anscheinend wurde hier seit Jahren nicht ausgemistet. Als mein Vater noch lebte, [68] sah es auf dem Dachboden meines Elternhauses ähnlich aus.
    Sanitäre Einrichtungen gibt es hier oben keine, weil der Bauherr wahrscheinlich bloß einen Schlafplatz für bedauernswerte Dienstmädchen oder ledige Tanten einplante. Ein zweites Kämmerchen ist mir beinahe unheimlich. Alles weist auf ein kleines Mädchen hin: ein Puppenhaus, ein Köfferchen voller Spielsachen, ein rosa angestrichenes Schaukelpferd.
    Auch zwei fleckige Matratzen liegen herum, vielleicht als Notlager für jugendliche Gäste. Mir fällt dabei das Angebot des Hausherrn ein, vor dem endgültigen Einzug Probe zu schlafen. Eigentlich ließe sich das ganz einfach bewerkstelligen: Ich zerre eine graugestreifte Matratze bis zum Treppenabsatz und lasse sie abstürzen. Mit Schwung poltert sie bis vor meine Wohnungstür.
    Im künftigen Schlafzimmer überlege ich, wo mein Bett am günstigsten stehen könnte. Man sollte nie direkt an einer Außenwand schlafen, das weiß ich von meiner Mutter. Außerdem hat sie empfohlen, bei Umzügen einen Hund auszuleihen. Dort, wo er sich zum Schlaf zusammenrolle, könne man sich vor Zugluft oder Wasseradern sicher fühlen und werde nie an Rheuma erkranken. Früher wurden die Schlafzimmer stets nach Osten ausgerichtet, damit [69] der erste Sonnenstrahl für ein natürliches Wachwerden sorgte, und auch in diesem Raum ist der Platz fürs Bett im Grunde vorgegeben.
    Also werfe ich mich auf das Lager und stelle mir vor, wie sanft ich in Zukunft hier einschlummern werde. Obwohl ich sehr müde bin, kreisen meine Gedanken weiterhin um Birgit, fast meine ich, schon wieder ihr süßliches Parfum zu riechen. Wohl uralter Mief aus der Kapokfüllung der Matratze.
    Meine Kollegin ist eine beneidenswerte Frau. Wegen ihrer Stupsnase und dem leicht fliehenden Kinn ist sie zwar keine klassische Schönheit, hat dafür aber auffällige Pluspunkte: ihre grünen Augen zum Beispiel und ihr dichtes, kastanienbraunes Haar. Ihr Teint ist makellos und frisch. Birgit gehört zu jenen Glücklichen, die nach wenig Schlaf und viel Alkohol oder auch bei Stress wie eine neugeborene Venus aus dem Bett hüpfen können. Während unserer zurückliegenden Urlaube habe ich mich oft gewundert, wie wenig ihr Aussehen leidet. Sie kann essen, was das Zeug hält, und nimmt nicht zu, sie raucht blaue Gauloises ohne Filter und hatte noch nie einen Hustenanfall. Bei den Schülern ist sie ebenso beliebt wie bei den Kollegen. Mit ihrem fröhlichen Lachen und ihrem Übermut kann sie Männer und Frauen bezaubern. Eigentlich hasse ich sie schon lange, aber es wird mir erst jetzt bewusst.

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    Ich kenne viele Ehen, in denen es ähnlich zugeht: Der eine Partner ist ordnungsliebend, der andere genau das Gegenteil. Bei uns zeigte sich das erst nach und nach. Als verwöhntes Einzelkind war ich relativ schlampig; Gernot wiederum wurde sehr konservativ erzogen und musste auch in seinem späteren Beruf als Steuerberater äußerst penibel sein. Deswegen wollte er von seiner Frau ebenso entlastet werden, wie es ihm seine Eltern vorgelebt hatten.
    Pünktlich um fünf kam mein Mann aus dem Büro, stieg als Erstes aus seinem Anzug, ließ ihn zu Boden gleiten und zog sich etwas Bequemes an. Da er fast den ganzen Tag in sitzender Haltung verbrachte, fand er es wichtig, bei schönem Wetter noch ein wenig Rad zu fahren oder zu joggen. Anfangs legte er Wert darauf, dass ich mitmachte. Ich wollte immer eine gute Ehefrau sein, deswegen bin ich gelaufen und geradelt, habe die Wäsche besorgt, seinen privaten Schreibkram erledigt und alles weggeräumt, was er fallen ließ. Mir gefiel diese Rolle zwar nicht sonderlich, denn schließlich war ich selbst [71]

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