Kuckuckskind
Drogeriemarkt und kaufe Teelichter, auch zwei Schülerinnen treiben sich unerlaubt hier herum. Sie schmücken sich mit bonbonrosa Creolen aus Plastik, strecken sich gegenseitig die Zunge heraus und machen Fotos mit ihren winzigen Handys. Als sie mich entdecken, sind sie im Handumdrehen verschwunden.
[148] Beim Verlassen des Ladens pralle ich fast mit Mutter Natur zusammen, die ebenfalls ordentlich eingekauft hat. Wie meistens versteckt sie ihr walzenförmiges Format unter Schichten aus buntem Filz und Loden.
»Donnerwetter, die Frau Reinold!«, begrüßt sie mich, denn als Älteste im Kollegium lehnt sie das allgemeine Duzen rigoros ab. »Ich muss mir nach einer Stunde Sexualkunde in der 5. dringend etwas Gutes tun!«
Sie schwenkt einen Klarsichtbeutel mit Hamamelis-Bodylotion und diversen biologischen Schönheitscremes.
»Warum war es denn so anstrengend?«, frage ich neugierig.
»Mein Gott, diese Kinder sitzen da wie die Ölgötzen und fragen einfach nicht!«, sagt Mutter Natur. »Wie soll man dann beurteilen, ob sie schon alles wissen oder völlig desinteressiert sind? Wie war das bei Ihnen in dem Alter?«
Ich wurde sowohl von der Mutter als auch in der Schule beizeiten aufgeklärt, berichte ich.
»Dann können Sie von Glück reden«, sagt die Biologielehrerin, »und eine Schwangerschaft im Teenageralter ist Ihnen wohl auch erspart geblieben!«
»Stimmt«, sage ich und will gehen.
Mutter Natur ist aber noch nicht fertig. »Schon [149] wieder las ich in der Zeitung von einem toten Neugeborenen, das man in eine Zeitung gewickelt im Gebüsch abgelegt hat. Spielende Kinder haben es gefunden! Ich bitte Sie, was für ein Schock! Hoffentlich trägt mein Unterricht Früchte, und so etwas passiert nicht bei unseren Schülern.«
»An unserer Schule kommt so etwas bestimmt nicht vor«, sage ich leise und verdrücke mich.
[150] 12
So kurz vor den Weihnachtsferien hatten wir gestern noch einen aufregenden Schultag: In der Toilette fanden zwei Mädchen aus meiner Klasse einen Zettel mit einer anonymen Bombendrohung. Daraufhin benachrichtigte der Gecko die Polizei, die alle 800 Schüler nach Hause schickte. Eine Durchsuchung des Gebäudes mit Spürhunden blieb zum Glück ergebnislos. Möglicherweise nur ein dummer Streich, aber niemand weiß es so genau.
Heute holt Patrick seine Frau vom Frankfurter Flughafen ab. Manuel ist noch in der Schule, ich habe mein Pensum bereits hinter mich gebracht und lauere aufgeregt am Fenster, um den Einzug der Diva zu beobachten. Lange warte ich vergeblich.
Schließlich hält Patricks Wagen vorm Haus, aber sie bleiben sitzen und scheinen noch zu reden. Warum bloß? Mindestens fünf Minuten dauert es, bis Patrick aussteigt, die Heckklappe öffnet, einen Koffer herausnimmt und auf der Straße abstellt. Isadora lässt sich die Beifahrertür aufhalten. Sie trägt [151] einen mondänen Ozelotparka. In einem solchen Aufzug würde ich mich vor Tierschützern mit Farbbeuteln fürchten. Plötzlich wirft sie einen schrägen Blick zum oberen Stockwerk, wo ich wie eine neugierige Spießerin hinter der Gardine stehe. Hat sie mich gesehen?
Beide sind jetzt im Haus angekommen und entziehen sich meinem Blick. Eigentlich habe ich nur einen flüchtigen Eindruck gewonnen: Sie ist größer als ihr Mann und eine Raubkatze. Ich bin kleiner als Patrick und eine Maus.
Erst einen Tag später werden wir miteinander bekannt gemacht. Übermorgen ist Heiligabend, Patrick hat gemeinsam mit Manuel einen reichlich großen Tannenbaum zum Präparieren auf die Terrasse geschleppt. Von meinem Balkon aus schaue ich belustigt zu, wie sie den Stamm in einen viel zu kleinen gusseisernen Ständer zwängen wollen.
»Komm doch mal runter!«, ruft mir Patrick zu. »Von oben zugucken und grinsen ist nicht fair!«
Also ziehe ich mir meine Jacke über. Auch Isadora hat sich inzwischen dazugesellt. Patrick stellt mich als Untermieterin, Lehrerin und Chormitglied vor. Die fremde Frau mustert mich aufmerksam und durchschaut meine Gefühle offenbar auf Anhieb. Sie lächelt. Ihre leicht fettigen Locken hat sie mit einem rosa Samtreif gebändigt, aber viel mehr kann [152] ich im Moment nicht an ihr aussetzen. Ihre Stimme klingt beim Sprechen nicht so bühnenreif, wie ich erwartet hätte, fast höre ich sogar eine Spur kurpfälzischen Singsang heraus.
Manuel hat auf Anordnung seines Vaters einen Fuchsschwanz und ein Beil geholt und hackt die untersten Äste der Tanne ab. Dann fragt er etwas ungeduldig, ob er noch gebraucht werde,
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