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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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und verlässt uns.
    »Warum will er denn schon wieder weg?«, fragt seine Mutter enttäuscht.
    »Seine Freundin fährt am zweiten Feiertag zu ihren Großeltern, bis dahin will er noch jede freie Minute mit ihr verbringen«, sagt Patrick.
    »Eine Freundin? Mein kleiner Mani? Nein, wie drollig!«, sagt sie.
    »Das ist völlig normal«, sagt Patrick.
    »Süß, dass er immer noch diesen eye-catcher trägt«, meint sie und stößt ein trockenes Lachen aus. »Man müsste den langen Schal nur gelegentlich mal waschen.«
    »Bitte sehr«, sagt Patrick.
    Da ich mich ziemlich überflüssig fühle, ziehe ich mich zurück.
    Zum ersten Mal im Leben muss ich die Feiertage allein verbringen. Soll ich das Fest der Liebe einfach [153] ignorieren? Auf einen Baum werde ich verzichten, aber vielleicht sollte ich mir doch ein paar große Tannenzweige in die Vase stellen. Irgendetwas muss ich mir auch kochen. Im Briefkasten finde ich eine viktorianische Christmas Card von Birgit und Steffen, die mir auf Englisch ein frohes Fest wünschen. Soll ich das taktlos finden oder eher nett?
    Am Nachmittag ruft Gernot an.
    »Sicher bist du zwischen Heiligabend und Silvester bei deiner Mutter«, sagt er, »deswegen wollte ich dir vorher noch alles Gute wünschen. Mich zieht es in den Schnee, ich habe mich für einen Skikurs angemeldet.«
    »Und meine Mutter zieht es in die Wärme, sie ist auch nicht im Lande«, sage ich.
    »Bist du am Ende so mutterseelenallein wie ich? Wenn ich das gewusst hätte…«, sagt mein Exmann.
    Wir schweigen beide. Ich überlege, was er wohl damit meint. Ich habe es für selbstverständlich gehalten, dass er mit seiner Familie feiert. Wäre er gern mit mir verreist, wo Birgit nicht zur Verfügung steht? Plötzlich überkommt mich wieder die aufgestaute Wut, und ich sage patzig: »Im nächsten Jahr kannst du ja mit deinem Sohn in die Berge fahren.«
    Er reagiert völlig verblüfft. »Was für ein Sohn? Wie soll man das verstehen?«
    »Du weißt genau, wie ich es meine! Birgit [154] erwartet ein Kind, und du bildest dir wohl ein, ich wäre zu dumm, um zwei und zwei zusammenzuzählen!«
    Gernot schnauft hörbar. »Anja, dein Humor war schon immer etwas grenzwertig, aber jetzt wirst du geschmacklos! Mit solchen Witzen verscherzt du dir noch den letzten Rest an Sympathie!« Er legt auf.
    Natürlich bin ich jetzt schlechter Laune, denn ich ärgere mich am meisten über mich selbst. Nach einem Beruhigungs-Sudoku sehe ich auf die Uhr und gehe eilig aus dem Haus. Die Läden werden bald schließen und sind an solchen Tagen sowieso überfüllt.
    Als ich meinen Wagen entlade und Tannenzweige, Weihnachtssterne, Wildente, Preiselbeeren, Netze voller Apfelsinen und zwei Körbe mit sonstigen Lebensmitteln aus dem Kofferraum zerre, kommt Manuel mit dem Fahrrad nach Hause.
    »Ich helfe Ihnen«, sagt er liebenswürdig, »erwarten Sie Besuch?«
    »Vielleicht«, sage ich unbestimmt. »Wenn du die beiden Körbe nimmst, brauche ich nicht zweimal zu gehen.«
    Bereitwillig schleppt der Junge meine Einkäufe die Treppe hinauf und stellt alles in der finsteren Küche ab.
    »Morgen können wir endlich ausschlafen«, sage [155] ich. »Zwei Wochen Ferien liegen vor uns! Ist das nicht herrlich?«
    »Inzwischen habe ich mich an das frühe Aufstehen schon fast gewöhnt. Als ich noch in der Pubertät war, fiel es mir viel schwerer«, sagt der Fünfzehnjährige. »Am Vormittag war ich immer todmüde, und abends konnte ich nicht einschlafen.«
    »Anscheinend bin ich immer noch in der Pubertät«, sage ich.
    »Bei Jugendlichen ist es oft ein Mangel an Melatonin«, belehrt mich Manuel. »Mein Vater musste mich jeden Morgen aus dem Koma reißen, reanimieren und mit der Peitsche unter die Dusche treiben. In anderen Ländern soll die Schule angeblich nicht schon um acht Uhr beginnen.«
    Ich verkneife mir ein Lächeln. Mein Schüler liest die gleiche Zeitung wie ich, vor wenigen Tagen ist auch mir ein Artikel über die Entwicklungsjahre aufgefallen.
    »Heute gehe ich mit meiner Mutter auf eine Party«, erzählt Manuel. »Sie will unbedingt mit ihrem wohlgeratenen Sohn angeben.«
    »Was für eine Party?«, frage ich neugierig.
    »Eine frühere Kollegin vom Mannheimer Theater hat sie eingeladen. Lauter Sänger und Schauspieler und überhaupt nur Promis«, sagt er.
    »Und dein Vater?«
    [156] »Patrick mag nicht, ich soll ihn vertreten. Aber ich komme nur mit, weil es keine Kleidervorschriften gibt.«
    »Und was macht ihr am Heiligabend?«
    » Same procedure as every

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