Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
Zeiten, die zauberhaften Weihnachten der Kindheit, an meine anfangs so glückliche Ehe. An Festtagen stand bei Gernot immer das Essen im Vordergrund. Er ließ sich raffinierte Gerichte einfallen, ich sorgte für den herausgeputzten Tannenbaum und den gedeckten Tisch.
    [160] Auch im Erdgeschoss wird jetzt Weihnachten gefeiert. Patrick, seine Frau und Manuel essen ihren Kartoffelsalat. Immerhin besser als meine Plätzchenkollektion vom Supermarkt. Mir kommen die Tränen. Hätte ich doch mit Mutter verreisen sollen? Kaum habe ich in Patrick einen Freund und Liebhaber gefunden, muss ausgerechnet seine Frau zurückkommen.
    Als hätte er das alles gewusst, klingelt Manuel an meiner Tür. »Wir haben viel zu viele Würstchen gekauft«, sagt er. »Haben Sie Lust darauf? Oder sind Sie bloß Hummer, Lachs und Kaviar gewöhnt?«
    »Eher Nachtigallenzungen«, sage ich und lasse mich nicht zweimal bitten.
    Wie gut, dass ich einen roten Weihnachtsstern gekauft hatte.
    In Patricks Küche ist der Tisch bereits für vier Personen gedeckt. Sekt steht im Kühler, als Vorspeise sind vier halbe, mit Krabben gefüllte Avocados angerichtet. Der wacklige Baum prangt nebenan im Wohnzimmer.
    Ich begrüße Manuels Eltern, überreiche die Pflanze und bedanke mich für die Einladung.
    »Mein Sohn hat mir erzählt, dass Sie eine wunderbare Lehrerin sind«, sagt die Diva. »Darauf stoßen wir erst einmal an!«
    [161] Patrick schenkt uns allen ein. Ich wage nicht, ihm in die Augen zu sehen, sondern frage Manuel, was man ihm geschenkt hat.
    »Kein Mofa«, sagt er.
    Seine Mutter meint: »Es ist doch im Winter viel zu kalt. Ostern können wir erneut verhandeln.«
    Stattdessen hat Manuel einen PC bekommen, weil der uralte Laptop seines Vaters, den er seit zwei Jahren benutzt, den Geist aufgegeben hat.
    Nach dem Essen begeben wir uns für den musikalischen Teil ins Wohnzimmer. Der Tannenbaum ist phantasievoll und bunt geschmückt, Modeschmuck aus mehreren Jahrzehnten und Glaskugeln. Isadora setzt sich an den Flügel und stimmt ein Weihnachtslied an. Leicht verlegen sucht Patrick die kopierten Notenblätter heraus, die wir bei der letzten Chorprobe erhalten hatten. Wir versuchen es mit Maria durch den Dornwald ging und scheitern jämmerlich an der Mehrstimmigkeit. Manuel kann vor unterdrücktem Lachen keinen Ton herausbringen.
    Allmählich kommt die Sängerin in Fahrt, steht auf und singt ohne Noten und Klavierbegleitung eine Händel-Arie. Sie hat eine warme Altstimme, ich bewundere sie sehr und könnte ihr stundenlang zuhören. Irgendwie kann ich verstehen, dass Patrick sich vor vielen Jahren in diese Stimme verliebt hat, [162] was wahrscheinlich noch anderen Männern so gehen wird. Auch Manuel, der gern über seine Mutter lästert, sieht mich immer wieder voller Besitzerstolz an, und ich lächele zurück. Über die Party neulich hat er nicht viel berichtet; die prominenten Gäste seien mehr oder weniger alle grottenvoll gewesen.
    Mein Liebhaber vermeidet eine direkte Anrede. Zwar weiß Manuel längst, dass wir uns duzen, aber ob es Isadora auch schon mitgekriegt hat? Männer sind ja immer ein bisschen feige, denke ich, aber ich halte mich an die unausgesprochene Bitte und benehme mich eher förmlich. So mancher Familienidylle hat es allerdings nicht geschadet, wenn die Anwesenheit eines Gastes eine Grundsatzdebatte über Mofas, Scheidungen und Zukunftspläne verhindert.
    Patrick begleitet mich bis zur Treppe, wo wir uns blitzschnell umarmen und küssen. Es geht so viel Herzlichkeit und Zuneigung von ihm aus, dass ich getröstet in die Einsamkeit zurückkehre.
    Noch spät am Abend ruft meine Mutter an, wahrscheinlich plagt sie ein schlechtes Gewissen. »Ist das Parfum nicht zauberhaft?«, fragt sie, und ich lobe den brünstigen Duft und das ordinäre Nachthemd.

[163] 13
    Die schönsten Zeiten in meinem Leben gehen immer wie im Flug vorbei, und in den vergangenen Monaten leuchtete mir das Glück wie nie zuvor. Patrick und ich sind uns in vielen Dingen ähnlich, wir haben gottlob den gleichen Humor und Geschmack, wir haben beide eine gescheiterte Beziehung hinter uns, und wir genießen unseren heimlichen Sex in vollen Zügen.
    Das heißt, Manuel hat ziemlich bald gemerkt, was los ist. Der Junge ist ja nicht auf den Kopf gefallen, er hat schnell begriffen, dass der Herr Papa bei seiner Lehrerin ein und aus geht und erst zu später Stunde wieder im eigenen Bett liegt. Er hat zwar seinen Vater nicht direkt darauf angesprochen, aber er sagte eines Tages beim

Weitere Kostenlose Bücher