Kuckuckskind
ihr muss es immer theatralisch zugehen. Ich bin noch mit einem blauen Auge davongekommen, nur mein zweiter Name ist Orlando.«
Nur zu gerne würde ich meinen Schüler mit der Lenore aus Gottfried August Bürgers Kunstballade vertraut machen, aber ich beherrsche mich. Inzwischen habe ich begriffen, wie unbeliebt ich mich mit Belehrung außerhalb des Unterrichts mache.
Aus seinen Äußerungen schließe ich, dass Manuel seiner Mutter nicht verzeihen kann. Aber natürlich gibt es in einer Ehe immer zwei, die für eine Trennung verantwortlich sind, niemand weiß das besser als ich. In den Sprechstunden unserer Schule sind alleinerziehende Mütter keine Seltenheit; die Kinder stehen fast immer zwischen den Kontrahenten und leiden. Umso mehr freue ich mich für Manuel, dass er nun offensichtlich eine Freundin [141] gefunden hat. Während der großen Pause unterhält er sich jetzt seltener mit Julian, sondern balzt lieber mit der hübschen Sara. Er ist ausgeglichener geworden, wühlt nicht mehr ständig in seinem Lockengewirr herum und beteiligt sich reger am Unterricht, und zwar nicht nur bei mir.
»Was wünschst du dir eigentlich zu Weihnachten?«, frage ich und wundere mich nicht über seine Antwort. Fünfzehnjährige sind wie eh und je auf ein Mofa fixiert. In diesem Fall hat er nichts gegen seine gut verdienende Mutter.
Wieder einen Donnerstag später erfahre ich, dass Patricks Arbeitszimmer genau unter meinem liegt und früher das Kinderzimmer der kleinen Lenore war.
»Patrick hat ihre Sachen auf den Dachboden geschafft«, sagt Manuel, »damit man nicht auf Schritt und Tritt daran erinnert wird. Meine Mutter hat sich darüber aufgeregt.«
Manuels schöne Mama – beziehungsweise Patricks Frau – bleibt für mich eine rätselhafte und sündige Carmen. Es wäre jedoch unfair, sie völlig abzulehnen, ohne sie je gesehen zu haben. Die Vornamen ihrer Kinder gefallen mir gut. Ob sie an Virginia Woolf und ihren wunderbaren Roman Orlando gedacht hatte? Aber wie kann man einen Mann [142] wie Patrick und einen Sohn wie Manuel verlassen und mit einem windigen Opernsänger abhauen? Kopenhagen – das bedeutet auch eine andere Sprache. Auf jeden Fall gehört Mut dazu, den eigenen engen Kreis zu verlassen.
Ach, würde sie doch nur in Dänemark bleiben! Ich hätte nichts dagegen, wenn Manuel das Weihnachtsfest bei ihr verbrächte. Patrick und ich ganz allein im Haus, da würden meine Chancen steigen. Schon male ich mir für die Winterferien einige erfreuliche Unternehmungen aus. Wie schön wäre es, mit Patrick durch den verschneiten Odenwald zu wandern und anschließend in einem Landgasthaus zu essen. Auch eine Kutschfahrt oder der Besuch eines Konzerts käme in Frage. Aber in Isadoras Spur sehe ich mich nicht durch den Schnee stapfen.
Inzwischen haben wir Ende November, und der Handel mit Nikoläusen und Zimtsternen läuft auf Hochtouren.
Martina hat mir verraten, dass man am letzten Montag vor den Ferien – anstatt die Carmina Burana zu proben – Weihnachtslieder singen werde. Jeder solle ein paar Plätzchen für eine kleine Feier mitbringen.
Ich rufe also meine Mutter an. »Hast du schon gebacken?«, frage ich.
[143] »Ach, Kind«, sagt sie, »habe ich es dir noch nicht gesagt? Ich werde mit Tante Nelly, deiner Kusine und ihrem Baby sechs Wochen auf Ibiza überwintern. Tante Nellys Freundin besitzt eine Ferienwohnung, die wir fast umsonst…«
»Gratuliere«, sage ich, »ich wünsche euch viel Vergnügen!«
»Anja, du bist doch nicht etwa eingeschnappt? Oder willst du am Ende mitkommen? Auf der Couch ist bestimmt ein Plätzchen frei.«
So tief bin ich noch nicht gesunken. Letztes Jahr hatte ich zum ersten Mal keinen eigenen Weihnachtsbaum, weil ich frisch geschieden war und im Rattenloch hauste. Damals lebte mein Vater noch, und es bot sich an, das Fest wieder einmal mit den Eltern zu verbringen. Wahrscheinlich hätte ich auch diesmal meine Mutter besucht, aber Ibiza mit der doofen Kusine, ihrem Baby Birgit und Tante Nelly – das geht über meine Kräfte. Ob meine Mutter in rein weiblicher Gesellschaft glücklich wird?
Noch nie habe ich mich mit Weihnachtsbäckerei herumplagen müssen. Jahr für Jahr brachte mir meine Mutter im Advent ein paar Blechdosen mit Elisenlebkuchen und anderen Plätzchen. Also zog ich das Internet zu Rate und druckte mir vier Rezepte aus.
[144] Was schließlich dabei herauskam, möchte ich eigentlich nicht zur Sprache bringen. Es gibt ja auch Pilze, die zwar schlecht schmecken, aber
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