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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Vorstellungsgespräch eingeladen. Ohne dass ich es wusste, hat er sich dort wohl beworben.
    »Und wenn sie dich tatsächlich anheuern wollen?«, frage ich. »Würdest du dann von hier wegziehen?«
    Patrick macht ein unentschlossenes Gesicht. »Manuel möchte es nicht. Aber was soll ich machen? In meinem Alter ist es ein Glücksfall, wenn ich überhaupt mal akzeptiert werde, was im Übrigen noch gar nicht entschieden ist. Aus der Stelle in München ist letzten Endes auch nichts geworden, obwohl ich ein gutes Gefühl hatte.«
    Und was wird aus mir?, denke ich und kämpfe mit den Tränen. Doch Patrick wird unter allen Umständen seine Chance nutzen. »Vielleicht behagt mir ja das dortige Betriebsklima nicht, dann kommt es sowieso nicht in Frage«, tröstet er mich. »Aber das kann man doch nur entscheiden, wenn man sich den [172] Laden mal ansieht. Übrigens habe ich in diesem Zusammenhang eine Bitte!«
    Das ist neu, denn meistens ist er für mich da.
    Patrick möchte, dass ich ihm den Zopf abschneide.
    »Pferdeschwanz«, verbessere ich.
    »Mit diesen Zotteln kann ich doch nicht bei einem Personalchef antanzen«, sagt er.
    »Willst du nicht lieber zum Profi gehen?«, frage ich.
    Er habe ein frühkindliches Frisör-Trauma, behauptet Patrick. Als seine Frau noch hier wohnte, habe ihm die Maskenbildnerin des Mannheimer Theaters regelmäßig die Haare geschnitten, aber diese treffliche Frau sei nach Stuttgart abgewandert.
    In diesem Augenblick betritt Manuel die Bühne. Sein Vater verlange, dass ausgerechnet ich ihn in einen schnieken Weltmann verwandle.
    Als der Junge hört, worum es geht, grinst er breit. »Sieh da, der alte Hippie will seriös werden! – Anja, das machen wir hier und sofort, verlass dich auf mich! Meine Großmutter musste Patrick auch immer scheren, von ihr existiert noch ein Kästchen mit irren Instrumenten!«
    Manuel scheint immer mehr Gefallen an diesem Projekt zu finden, Patrick immer weniger.
    »Vielleicht gehe ich ausnahmsweise doch zum [173] Frisör«, sagt er ängstlich, »wenn Anja so gar keine Erfahrung hat…«
    Aber sein Sohn hat bereits die Folterinstrumente vom Speicher geholt, und wir setzen Patrick im Badezimmer auf einen herbeigerollten Drehstuhl. Ich drapiere ein Handtuch um seine Schulter und greife kühn zur Schere.
    »Sollte man die Haare nicht vorher waschen?«, fragt Patrick, dem die Sache unheimlich wird.
    »Ach was«, sage ich und säbele kurz entschlossen den Pferdeschwanz ab.
    Manuel schließt unterdessen ein altmodisches Maschinchen, das offensichtlich noch funktioniert, ans Stromnetz. Patrick hat sich in sein Schicksal ergeben und hängt willenlos auf seinem Stuhl wie das Opferlamm auf der Schlachtbank.
    Und schon fährt sein Sohn zügig mit dem summenden Rasenmäher mitten durch die Wolle und bahnt eine breite Schneise durch das graumelierte Haupthaar seines Vaters.
    Entsetzt schreie ich auf, aber es ist zu spät.
    Patrick springt hoch und besieht sich im Spiegel. »Das habt ihr aber fein eingefädelt!«, brüllt er. »Jetzt kapiere ich blöder Esel erst, worauf ich mich eingelassen habe! Damit wollt ihr nur verhindern, dass ich nach Potsdam fahre! Doch da kennt ihr mich schlecht!«
    [174] Noch nie habe ich den gutmütigen Patrick so zornig gesehen. Er reißt Manuel die Mähmaschine aus der Hand und fährt damit wie ein Besessener kreuz und quer über seinen Schädel, so dass er nach wenigen Minuten wie ein buddhistischer Mönch aussieht.
    Völlig verschüchtert, sprachlos und fasziniert schaue ich ihm zu und übernehme es am Ende, auch Patricks Hinterkopf vom Bewuchs zu befreien. Manuel hat sich schleunigst aus dem Staub gemacht.
    »Jetzt musst du noch ein schwarzes Hemd und ein dunkelgraues Sakko anziehen, dann wirkst du wie ein Regisseur und machst einen progressiven Eindruck!«, schlage ich kleinlaut vor und verfolge angespannt, wie sich der Mann meiner Träume vor dem Spiegel dreht und wendet. Im Gegensatz zu natürlichen Glatzen gestandener Männer sind mir rasierte Schädel ein Greuel, und ich erinnere mich, wie sehr sich Steffen im letzten Sommer durch diese Mode zum Nachteil verändert hatte.
    Patrick beruhigt sich relativ schnell. Er werde trotzdem nach Potsdam fahren, sagt er, vielleicht habe er gerade durch sein verändertes Aussehen eine größere Chance. Dann nimmt er mich in die Arme und sagt zum ersten Mal, dass er mich liebt.
    »Ich werde mir schon etwas einfallen lassen«, meint er. »Sollte ich tatsächlich in Potsdam eine [175] gutdotierte Arbeit finden,

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