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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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eingetragen sowie ein professionelles Foto eingeklebt. Selbst auf einen Fußabdruck mochten die stolzen Eltern nicht verzichten.
    Das Neugeborene liegt auf einem blaugeblümten Kissen, umgeben von allerlei Plüschtieren. Vergeblich forsche ich in den winzigen Gesichtszügen nach irgendeiner Ähnlichkeit. Die Augen sind zugekniffen, den Kopf bedeckt ganz wenig Flaum, die Haut schimmert fleckig. Ist das nun Gernots oder Steffens Sohn? Er sieht eigentlich aus wie ein Alien, finde ich, und hat auch gar nichts von seiner hübschen Mutter.
    [168] »Armer Victor Augustus«, sage ich zu dem Foto. »Bei diesem Aussehen wirst du es nicht leicht haben!« Über meine Worte erschrecke ich selbst, denn ich komme mir vor wie die dreizehnte Fee, die böse Verwünschungen ausspricht.
    Meine Mutter ist mir auf die Schliche gekommen. Vor einer Stunde erschien sie ohne Voranmeldung, einen gefüllten Kochtopf auf dem Rücksitz.
    Wir saßen beim Mittagessen, und da sie natürlich auf meine Klingel drückte, konnte ich sie im Erdgeschoss nicht hören. Mutter hatte jedoch mein Auto erspäht, sie kannte auch meinen Stundenplan und war sich sicher, dass ich zu Hause sein musste. Da sie die ganze Strecke nicht unverrichteter Dinge zurückfahren wollte, läutete sie schließlich bei Dr. Patrick Bernat.
    Manuel öffnete und führte sie mitsamt ihrem Kochtopf in die Küche, wo wir gebratenen Zander, neue Kartöffelchen und Zucchini aßen. Mit einem einzigen Blick erfasste Mutter die Lage. Patrick holte den Besucherstuhl, ich brachte einen Teller und ein Fischbesteck.
    Nach dem Essen verlasse ich meine neue Familie und nehme Mutter mit nach oben in meine Wohnung.
    [169] »Das musst du mir erklären…«, beginnt sie.
    Ich seufze. »Es ist genau so, wie du denkst«, sage ich. »Aber reg dich nicht auf, es geht mir endlich wieder gut.«
    »Ja, ja«, sagt sie gedehnt, »ich habe längst mitgekriegt, dass du deine Lethargie überwunden hast. Ist dieser Mann inzwischen geschieden?«
    Die dargestellten Familienverhältnisse gefallen ihr nicht.
    »Seine Frau haust also auch mit einem verheirateten Mann zusammen? Kind, in was für Zeiten leben wir eigentlich! Und wie stellst du dir die Zukunft vor? Außerdem ist er viel zu alt für dich, er würde den Jahren nach eher zu mir passen.«
    Ich reagiere gekränkt. »Mutter, er ist fast zwanzig Jahre jünger als du. Und was die Zukunft angeht, so lass das mal meine Sorge sein. Schließlich bin ich Beamtin auf Lebenszeit!«
    »Und was macht er beruflich? Seiner Frisur nach würde ich auf eine brotlose Kunst tippen.«
    »Er ist Chemiker, aber im Augenblick ohne Anstellung. Was willst du noch alles wissen?«
    Nach meinem unausgesprochenen Vorwurf ist sie eine Weile still, steht aber schließlich auf und will gehen. Auf der Fensterbank entdeckt sie die Geburtsanzeige. Sofort vergisst sie meine gereizte Reaktion. »Nein, was für ein süßes Baby! Birgit und [170] Steffen – sind das nicht eure Freunde, mit denen ihr so oft in die Ferien gefahren seid? In letzter Zeit hast du gar nicht mehr von ihnen gesprochen, riss der Kontakt etwa durch eure Scheidung ab?«
    »Irgendwie schon«, sage ich mürrisch.
    Mutter verkneift es sich, Birgit als leuchtendes Beispiel hinzustellen, und murmelt beim Abschied nur noch: »Man kann halt nicht alles haben.«
    Ob sie nun meint, dass ihr der Großmutterstatus versagt bleibt oder mir eine erneute Ehe oder gar ein Kind, ich weiß es nicht.
    Nach der Korrektur von sechs der 22 Aufsätze, die sich angesammelt haben, begebe ich mich nach unten.
    Patrick serviert uns einen Espresso. »Eine sympathische Mutter hast du«, sagt er freundlich. »Mein respektloser Filius hat gefragt, ob er sie Oma nennen soll.«
    »Ihretwegen könnt ihr morgen mal bei mir essen«, sage ich. »Oma hat genug Paella für drei Personen mitgebracht. Oder muss es auch noch für Manuels Freund reichen?«
    »Julian rangiert momentan an zweiter Stelle auf der Hitliste, doch Manuel will morgen die Nummer eins mitbringen«, sagt Patrick. »Ich bin wahnsinnig neugierig! Da seine Freundin zum ersten Mal [171] herkommt, sollten wir vielleicht ausnahmsweise getrennt essen, was meinst du?«
    Das ist mir auch recht, die Paella wird sich im Kühlschrank wohl noch bis übermorgen halten.
    Zu guter Letzt übergibt mir Patrick noch einen Brief. Während ich lese, fühle ich mich scharf beobachtet. Ich verziehe zwar keine Miene, aber der Inhalt gefällt mir nicht: Mein Liebster wird von einer Potsdamer Firma zu einem

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