Kuckuckskind
Essen ganz beiläufig: »Anja, kannst du mir mal bitte das Salz reichen!«
Patrick sah verwundert vom Teller auf. »Was habe ich eben gehört?«, fragte er.
»Ihr führt euch auf wie zwei Teenager«, sagte Manuel, »meinetwegen ist euer Versteckspiel wirklich nicht nötig.«
[164] Seitdem benehmen wir uns ein wenig wie eine Familie, aber ich bin froh, dass Manuel sich in der Schule nichts davon anmerken lässt. Ob er seine Freundin Sara und Julian informiert hat, weiß ich nicht. Manchmal scheint es mir, als ob auch der Junge erst mitten in der Nacht nach Hause kommt, aber für seine Erziehung bin ich – jedenfalls im häuslichen Bereich – nicht zuständig.
Als Birgits Schwangerschaftsurlaub beginnt, muss ich ihren Französischunterricht in der zehnten Klasse mit übernehmen. Seitdem bin ich ihr nicht mehr über den Weg gelaufen und habe sie ein wenig aus meinem Gedächtnis verbannt. Wenn man selbst im Glück schwimmt, neigt man ja eher zum Verzeihen und wird großmütig. Sicher, es war nicht fair von ihr, ausgerechnet mit Gernot anzubändeln, aber ich war ja bereits von ihm geschieden. Und das Baby ist vielleicht wirklich von Steffen, und ich habe allzu hysterisch reagiert.
Bisher habe ich noch nicht gewagt, mit Patrick über mein zentrales Problem zu sprechen, man soll die Pferde nicht vorzeitig scheu machen. So gefestigt, dass wir über eine eventuelle Familienvergrößerung sprechen können, ist unsere Partnerschaft nun auch wieder nicht.
Seltsam ist es schon, dass ich neuerdings auch bei [165] der Arbeit auf neue Sympathien stoße. Kaum betrete ich das Lehrerzimmer, da gesellen sich Mutter Natur und der schlipstragende Biologielehrer zu mir, um ihren Hagebuttentee und die Reste ihrer Haferflockenplätzchen mit mir zu teilen.
Andere aus dem Kollegium verhalten sich ähnlich, ich bin auf einmal zum Mittelpunkt geworden. Nun ja, die, denen es schlechtgeht, werden eher gemieden, eine lebensfrohe Ausstrahlung wirkt dagegen wie ein Magnet.
Auch ein neuer Kollege, der mit seiner dunkel gerahmten Brille, in Cordhosen und Tweedjacke ein wenig an Woody Allen erinnert, sucht meine Nähe. Er scheint sogar ein bisschen verliebt zu sein und macht mir Komplimente. Wenn ich wollte, könnte ich ihn rasch erobern, aber ich bin zurzeit immun gegen andere Männer, selbst wenn sie attraktiv sein sollten.
Als heute in der großen Pause nicht nur auf dem Schulhof, sondern auch im Lehrerzimmer die Butterbrote ausgepackt werden und ich wie schon oft begehrliche Blicke aussende, stürmt die Schulsekretärin herein.
»Die Frau Tucher hat einen Sohn bekommen!«, ruft sie freudig erregt, denn sie nimmt immer leidenschaftlich am Privatleben aller Lehrer teil. »Ihr [166] Mann hat gerade angerufen. Unser Chef meint, ich soll für einen Frühlingsstrauß sammeln.«
Alle zücken ihr Portemonnaie; Mutter Natur kramt sogar eine Postkarte aus ihrem Jutesack, aber unsere biedere Sekretärin hält den nordamerikanischen Grizzly für unpassend. Wir unterschreiben auf einem Blatt, das sie in eine Glückwunschkarte einlegen wird.
Mich hat die Botschaft nicht bloß aufgewühlt, sondern geradezu fertiggemacht. Völlig unverdient hat Birgit geschafft, was mir wohl für immer verwehrt bleibt.
»Du bisch doch ihr beschde Freindin«, tuschelt mein Kollege Anselm Schuster. »Warum machsch a Gsicht wie Dürers Melancolia? Hat’s Komplikatione bei dr Geburt gebba?«
Es fehlte bloß noch »mir kannsch des ja saga«. Ich versichere ärgerlich, dass er mein Mienenspiel falsch gedeutet habe und bestimmt alles gutgegangen sei.
»Mädle, manchmal wird mer ned schlau aus dir«, klagt Anselm kopfschüttelnd.
Wir essen jetzt mittags immer gemeinsam.
Auch Manuel hat die große Neuigkeit erfahren, die Anselm Schuster prompt rumerzählt hat. »Frau Tucher hat ihr Baby gekriegt«, erzählt er. »Ob sie bald wieder in die Schule kommt?«
[167] »So schnell geht das bestimmt nicht«, sagt Patrick. »Ich habe aber keine Ahnung, wie es bei Lehrerinnen geregelt ist. Anja weiß so etwas besser als ich.«
Ich zucke mit den Schultern und verhalte mich einsilbig. Selbst beim Essen hat man keine Ruhe, dabei hatte ich mich auf die gefüllten Paprikaschoten gefreut.
Zwei Wochen später erhalte ich die offizielle Anzeige: Über die Geburt des kleinen Victor Augustus freuen sich die überglücklichen Eltern Birgit und Steffen Tucher. Sie haben sich viel Mühe mit der Gestaltung der Doppelkarte gegeben, die amtlichen Koordinaten – Gewicht und Größe –
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