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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Gelüsten nicht so ohne weiteres nachgeben. Victor würde bald seinen Hunger anmelden und eine frische Windel brauchen. Abgesehen davon wollten sich Vater und Sohn vielleicht einmal ohne mich unterhalten.
    Es ist nicht ganz einfach, einen Säugling mit neuen kulinarischen Genüssen vertraut zu machen. Auf Anraten meiner Mutter habe ich die Bananenscheibe mit der Gabel zu feinstem Mus zermatscht und einen ganz kleinen Plastiklöffel ausgesucht, aber Victor scheint überhaupt nicht zu begreifen, was ich vorhabe. Ich bändige mit der linken Hand seine fuchtelnden Ärmchen und versuche mit der rechten, [280] ihm winzige Mengen Brei einzutrichtern. Beharrlich schiebt Victor mit der Zunge alles wieder heraus, ich schabe das verschmierte Mündchen frei und beginne das Spiel von vorn. Nach etwa fünf Minuten hat der Kleine ein Aha-Erlebnis, denn er schluckt, und es scheint ihm zu schmecken.
    Wir sind noch lange nicht fertig, als das Telefon klingelt. Victor möchte jetzt gern weiteressen und protestiert. Ich klemme mir den Hörer in die Halskuhle und füttere weiter.
    Patrick berichtet, dass Manuels Zug Verspätung hatte. »Hoffentlich kriegt er in Hamburg den Anschluss nach Lübeck«, sorgt sich sein Vater.
    »Victor isst gerade seine erste Banane«, sage ich leicht genervt und erfahre, dass Patrick einen ehemaligen Kollegen am Bahnhof getroffen hat.
    »Diesen armen Teufel haben sie gerade gefeuert«, sagt er, »wir gehen noch ein Bierchen trinken, nur damit du Bescheid weißt.«
    Ich spachtele weiter Bananenbrei und denke dabei an meine Mutter, die sich stets über die Ausdrücke »Bierchen«, »Weinchen«, »Schnäpschen« und »Zigarettchen« mokiert hat. Wo sie recht hat, hat sie recht.
    Als das Kind satt und zufrieden auf seiner Patchworkdecke liegt, stelle ich mich darauf ein, dass aus einem Bierchen mit dem armen Teufel [281] wahrscheinlich mehrere werden. Eigentlich wollte ich Victor in den Kinderwagen packen und spazieren gehen, aber draußen nieselt es.
    Bei diesem trüben Wetter kommt mir Patricks Wohnzimmer recht finster vor, man könnte es an der Gartenseite durch eine gläserne Schiebetür erheblich aufwerten. Überhaupt würde ich es gern umgestalten und etwas freundlicher und moderner einrichten. Der schwarze Flügel und die dunkle Bücherwand aus Teakholz schlucken viel Licht. Ich stehe davor und ziehe wahllos hier und dort ein Buch heraus. Im hintersten Regal entdecke ich die Fotoalben und mache mich neugierig darüber her.
    Warum hat die berühmte Sängerin ihr Album nicht mitgenommen? Betrachtet sie Patricks Haus immer noch als Zentrum ihres Lebens und als ihr eigentliches Heim? Ich blättere darin herum, und Schadenfreude regt sich. Auch die Diva war einmal ein pummeliges Kleinkind und ein molliger Teenager. Für ziemlich spießig halte ich die Fotos aus ihrer Kindheit und Jugend, da kann ich mit meinem eigenen Elternhaus mehr Staat machen. Das nächste Buch ist das dickste und zeigt Fotos der Familie Bernat aus glücklichen Tagen. Patrick und Isadora als strahlendes Liebespaar, auf dem Standesamt, auf Reisen und mit dem neugeborenen Sohn. Auf der [282] letzten Seite ist Manuel schon fast ein Schuljunge und hält das kleine Schwesterchen im Arm. Fortsetzung folgt im nächsten Band, den ich ebenfalls anschauen will.
    Man hat mir noch nie zuvor ein Bild von Lenore gezeigt. Auf einem der Fotos ist sie etwa vier Monate alt, liegt auf Victors bunter Decke und sieht ihm zum Verwechseln ähnlich. Erst nach längerem verblüfftem Hinstarren begreife ich endlich, was das bedeutet. Meine Mutter hatte leider mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen, als sie von Patricks und Victors Ähnlichkeit sprach.
    Nun hatte ich gedacht, endlich den Mann fürs Leben gefunden zu haben, da komme ich schon wieder einer hinterhältigen Irreführung auf die Spur. Patrick hat mich von vorn bis hinten belogen. Natürlich hat er Birgit nicht bloß ein einziges Mal getroffen, natürlich hat er mit ihr geschlafen, natürlich ist Victor sein Sohn. Wie konnte ich mir nur einbilden, dass es die pure Herzensgüte war, die ihn ein fremdes Kind so uneigennützig und liebevoll aufnehmen ließ!
    Nach dem ersten Schrecken schaue ich mir weitere Fotos von Leno an, denn die identische Pose auf der Spieldecke – zu Zeiten unserer Großeltern war es das Eisbärfell – könnte zu einer Sinnestäuschung geführt haben.
    [283] Leider ist auch auf vielen anderen Aufnahmen der Sachverhalt eindeutig: Victor und das verstorbene Mädchen gleichen

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