Kuckuckskind
nachweisen. Die Kusine ist dann abgehängt.
»Es hat doch alles zwei Seiten«, sage ich, löse den Pferdeschwanz und bette meinen Kopf in Position, damit unser Findelkind meine Haare verwuscheln [287] kann. Dann setze ich mich wieder auf und schaue ihn lange an. Es ist seltsam, dass ich immer das Gefühl hatte, Victor sehe einer mir bekannten Person ähnlich, aber nie auf die einfachste Lösung kam. Goethe hat wieder einmal recht: Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah.
Wenn ich den Kleinen so näher betrachte, erkenne ich auch Birgits Schalkhaftigkeit wieder, ihre Grübchen und ihre Neigung zu übermütigem Lachen – jedenfalls in jener Zeit, als sie noch meine Freundin war. Victor ähnelt beiden Seiten: Patrick und Birgit.
Als es an meine verschlossene Tür klopft, fahren Victor und ich aus einem verträumten Dämmerzustand hoch. Nach sekundenlangem Zögern lasse ich Patrick herein, denn ich will nicht die Hysterische spielen, sondern ihn lieber auflaufen lassen. Weil ich fast nichts anhabe, krieche ich wieder zu Victor ins Bett.
Er setzt sich neben mich und streicht mir übers Haar. »Hattest du etwa Angst, so ganz allein?«, fragt er leicht verwundert, weil er nicht einfach eindringen konnte wie gewohnt.
Ich nicke matt.
»Kommt dir das Haus auch so leer vor ohne Manuel?«, fragt er.
[288] »Victor hat mir ja Gesellschaft geleistet«, sage ich, »aber das hat leider bald ein Ende. Die Frau vom Jugendamt hat vorhin angerufen, Victor soll von Birgits Kusine adoptiert werden.« Nun muss er wohl Farbe bekennen, denke ich und beobachte Patrick sehr genau.
Er reißt die Augen auf, schnappt nach Luft, schweigt lange. »Das musst du mir genauer erklären«, sagt er schließlich.
Ich wiederhole die Worte der Beamtin, so gut ich kann.
»So mir nichts, dir nichts adoptieren? So einfach geht das bestimmt nicht«, meint Patrick. »Diese Kusine kennen wir doch gar nicht!«
»Das ist kein Argument«, entgegne ich.
»Nein, nein, nein«, ruft Patrick erregt, »daraus wird nichts! Die werden noch von mir hören! Ich lasse mir etwas einfallen, da kannst du ganz beruhigt sein.« Er schnappt sich den Kleinen und presst ihn an sich. »Stinkebärchen, du brauchst dir keine Sorgen zu machen! Wir überlassen unseren Victor Augustus nicht einfach einer wildfremden Frau!«
Jetzt wäre der richtige Moment für ein Geständnis, denke ich.
Aber Patrick schweigt und wiegt sein Söhnchen hin und her. »Hast du schon etwas gegessen?«, fragt er etwas unerwartet. »Ich habe jedenfalls Hunger. [289] Auf dem Mannheimer Markt gab es grüne Bohnen und Lammkoteletts, die werde ich jetzt mit viel Knoblauch in der Pfanne braten. In den Ferien brauchen Lehrerinnen nicht nach Jil Sander zu duften.«
Mit solchen Worten kann sich jeder Mann bei mir einschmeicheln, ich lächele wider Willen und freue mich aufs Essen.
Inzwischen habe ich mich so weit gefangen, dass ich einen Stoß Hefte in Angriff nehme. Man soll nicht wie ein fauler Schüler bis zum letzten Ferientag damit warten. Als Patrick auf den Gong schlägt, habe ich immerhin schon etwas rote Tinte verbraucht und ein paar Fünfer ausgeteilt.
Nach dem letzten Bissen fragt mich Patrick, der anscheinend weiterhin seinen Gedanken nachhing: »Wie soll man sich das eigentlich vorstellen, wenn die Polizei einen Gentest für nötig hält?«
Vor lauter Überraschung überspringe ich mehrere Gedankengänge und frage zurück: »Willst du dich etwa freiwillig stellen?«
»Stellen? Wieso? Ich bin doch kein Mörder«, sagt Patrick verwundert. »Ich wollte rein theoretisch wissen, wie man so einen Test machen lässt. Aber so etwas weißt du wahrscheinlich nicht, du Neunmalkluge!«
»Aber sicher, das sieht man doch in jedem [290] besseren Polizeifilm! Der Kommissar entnimmt eine Speichelprobe und schickt sie an den Gerichtsmediziner; im Übrigen kann man auch privat ein Labor beauftragen. Es ist allerdings umstritten, ob ein Mann ohne Wissen und Einwilligung seiner Frau die tatsächliche Vaterschaft des Kindes aufdecken darf. Trotzdem wird es oft genug gemacht.«
»Und daraus resultieren mit Sicherheit schreckliche Tragödien«, meint Patrick. »Wie man es ja bei deinen Freunden erleben konnte.«
Wir sehen uns kurz und kritisch an, und ich hätte alles darum gegeben, die Gedanken meines Liebhabers zu erraten.
[291] 22
Heute ist Victor schon sehr früh wach geworden. Es ist ein strahlender Sommermorgen. Nachdem ich den Kleinen gefüttert und gewindelt habe, brühe ich mir
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