Kuckuckskind
diplomatischer an: »Mein armer Schatz! Ja, ich kann es nur zu gut nachfühlen: Berge an Wäsche, das Baby, die ewige Kocherei, der [275] Garten – und niemand merkt auch nur, was man den ganzen Tag über getan hat. Da braucht man wenigstens abends seine wohlverdiente Ruhe.«
Patrick nickt ganz ernsthaft, dann muss er schallend lachen und packt mich am Genick. »Ab in die Kiste, du kleines Luder.«
Am nächsten Morgen werde ich früh wach, Patrick schläft noch fest. Seine geschorenen Haare sind kräftig nachgewachsen, an den Schläfen zunehmend grau. Lange schaue ich ihn an und bin mir sicher, dass ich vorher noch keinen Mann so fröhlich geliebt habe wie meinen arbeitslosen Hausbesitzer.
Ich habe nicht erwartet, dass meine Mutter uns postwendend einen Gegenbesuch abstattet. Vielleicht hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie mir so penetrante Ratschläge gegeben hat; wahrscheinlich ahnt sie auch, dass man durch psychischen Druck oft nur das Gegenteil erreicht.
Sie hat ein Geschenk für Victor mitgebracht – ein uraltes, aber funktionsfähiges Hochstühlchen. In der Weinstube meiner Großeltern wurden jahrzehntelang die mitgebrachten Kleinkinder darin eingeklemmt und zum Stillhalten gezwungen. Nun, Victor kann noch nicht selbständig sitzen und Brei essen, aber das wird schon in einigen Wochen der [276] Fall sein. Bisher machte er rasante Fortschritte in seiner Entwicklung.
Nach wie vor begeistert sich meine Mutter für unser gutgenährtes Pflegekind, das sein neu erlerntes gickelndes Lachen jetzt andauernd ausprobiert. Anscheinend hat sie aus pragmatischen Gründen bei ihren Vorurteilen gegen Patrick ein paar Abstriche gemacht. Lächelnd schaut sie zu, wie er dem Kleinen die Flasche gibt, während ich Kaffee koche.
»Dein Vater konnte mit Säuglingen nicht viel anfangen«, erinnert sie sich. »Erst als du laufen und sprechen konntest, entwickelte er sich zum Bilderbuchpapa.«
Dann äußert sie den Wunsch nach einem kleinen Spaziergang, denn sie hätte seit vielen Jahren gern wieder mal einen Kinderwagen vor sich her geschoben. Also vertauschen wir die zugedachten Rollen – Patrick bleibt zu Hause, Mutter und ich ziehen mit Victor los.
Kaum sind wir auf der Straße, da packt sie mich am Arm. »Das ist ja hochinteressant, wie sehr der Kleine auf Patrick geprägt ist, fast wie ein Grauganskücken auf Konrad Lorenz! Hast du nicht auch mal gelesen, dass Adoptivkinder mit der Zeit ihren Eltern immer ähnlicher werden? Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich schwören, dass dein Freund der leibliche Vater von Klein-Victor ist. Die gleichen [277] braunen Augen, die dunklen Haare und vor allem dieser überwältigende Charme!«
Ein klein wenig hat sie recht, aber der freundliche Mann von der kommunalen Müllabfuhr hat ganz ähnliche Merkmale aufzuweisen.
[278] 21
Patrick bringt Manuel nach Mannheim, um sein Söhnchen in den Zug zu setzen. Ich finde das völlig überflüssig, aber vielleicht fällt Vater und Sohn der Abschied schwerer, als ich es mir vorstelle. Seit Isa ausgezogen ist, sind die beiden ein eingeschworenes Männerteam; auch der Tod der kleinen Lenore wird sie fest zusammengeschweißt haben.
Manuel ist alles andere als unselbständig, er könnte durchaus auch ohne Eltern zurechtkommen. Jeden zweiten Tag betätigt er die Spül- oder Waschmaschine, er leert die Mülleimer aus, mäht gelegentlich den Rasen, kümmert sich oft um den kleinen Victor und verbringt seine Abende – wenn er nicht gerade als Babysitter eingesetzt wird – häufig in Gesellschaft seiner Freunde. Ich habe mich in diesem Alter sehr viel weniger an notwendigen Hausarbeiten beteiligt, mochte aber mit 16 nicht mehr mit Vater und Mutter in die Sommerfrische fahren. Manuel dagegen ist noch nie in den großen Ferien allein unterwegs gewesen. Das Verhältnis zu seinem Vater ist durch Respekt, Vertrauen und Kumpelhaftigkeit [279] geprägt. Wobei mich eine übertriebene Großzügigkeit etwas irritiert: Abends kommt und geht Manuel, wie es ihm gerade passt.
Als ich noch mit Gernot verheiratet war, sind wir an freien Samstagen oft zum Einkaufen nach Mannheim gefahren. Bei Manuels Verabschiedung schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Ich will mitkommen! Wenn der Junge endlich in der Bahn sitzt, könnten Patrick und ich ein wenig bummeln gehen, beim Italiener essen, ein Paar Schuhe kaufen und…
Noch bevor ich diesen Wunsch laut äußern konnte, meldete sich mein Verantwortungsbewusstsein: Wenn man ein Baby hat, kann man spontanen
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