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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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einander fast wie Zwillinge. Kann es einen solchen Zufall geben?
    Die Tatsache, dass Patrick und Birgit ein Verhältnis hatten, ist zwar kein echter Verrat, denn es fand noch vor meiner Ära statt. Doch wieso konnte er nicht genügend Mut aufbringen, mir klaren Wein einzuschenken? Was habe ich falsch gemacht, dass ich immer Pech mit den Männern habe? Oder bin ich es am Ende, die spinnt? Soll ich lieber keine große Szene machen, sondern erst einmal abwarten? Ich könnte einen weiteren Vaterschaftstest veranlassen, um erst nach hundertprozentiger Gewissheit mit Patrick abzurechnen.
    Wie ein Tier im Käfig tigere ich durch Patricks Wohnung. Über den langen Flur ins Wohn- und Schlafzimmer, zurück in die Küche und bis in sein privates Reich. Früher war es einmal das Zimmerchen von Leno, aber kein Bild von ihr wurde in dieser Wohnung aufgehängt. Vielleicht ist die Erinnerung immer noch so schmerzlich, dass die Familie eine ständige Konfrontation nicht aushalten kann. An einer Pinnwand hinter Patricks Schreibtisch stecken Postkarten und Zettel mit Notizen, Telefonnummern und chemischen Formeln. Auf einem Papierfetzen ist zu lesen:
    [284] Allem kann ich widerstehen,
nur der Versuchung nicht.
Oscar Wilde
    Das stammt von Birgit, denke ich sofort. Aussprüche englischer Autoren zitierte sie zwar am liebsten in der Originalsprache, aber für weniger polyglotte Mitmenschen mochte auch die deutsche Übersetzung genügen. Wie passend war dieser Ausspruch doch für eine Frau, die nicht einmal genau weiß, wer der Vater ihres Kindes ist. Und schon erscheint mir Birgit erneut als Feindin, obwohl ich ihr das Verhältnis mit Gernot verziehen habe.
    Als ob das alles nicht ohnedies zu viel für meinen armen Kopf wäre, klingelt erneut das Telefon. Es ist die nette Dame vom Jugendamt. »Ich habe eine gute Nachricht«, sagt sie, »Sie werden demnächst entlastet! Eine Kusine von Frau Tucher will den kleinen Victor zu sich nehmen. Wahrscheinlich haben Sie Ihre Urlaubsreise zurückstellen müssen, doch jetzt können Sie getrost wieder Pläne schmieden.«
    »Wieso, warum, wie kommt diese Kusine dazu?«, stottere ich.
    »Frau Tuchers Schwester in Brüssel ist zwar die nächste Blutsverwandte, aber sie kann aus beruflichen Gründen kein Baby aufziehen. Sie hat jedoch [285] mit ihrer kinderlosen Kusine Kontakt aufgenommen. Diese Frau bat um Bedenkzeit, hat aber inzwischen eingewilligt und wünscht sich gegebenenfalls eine spätere Adoption.«
    »Was heißt gegebenenfalls?«, frage ich.
    »Unter uns gesagt«, meint sie, »muss man damit rechnen, dass Birgit Tucher nicht mehr am Leben ist. Aber solange man keine Leiche gefunden hat, gibt es keine absolute Sicherheit. – Freuen Sie sich eigentlich gar nicht über diese positive Lösung, Sie wirken so bedrückt?«
    »Wir haben den Kleinen ins Herz geschlossen«, sage ich.
    Seit meiner Kindheit habe ich nicht so oft geweint wie in diesem Jahr.
    Schließlich räume ich die Fotoalben wieder ins Regal, trage Victor nach oben in meine Wohnung und sperre mich ein. Wenn Patrick irgendwann zurückkommt, will ich ihn erst einmal nicht sehen. Am liebsten würde ich jetzt so lange Sudokus lösen, bis mir nur noch Zahlen vor den Augen flimmern, aber ich habe seit langem kein einziges Heftchen mehr im Haus. Also lege ich mich mit dem fröhlich krähenden Baby in mein großes Bett. Das Schlafzimmer war für mich stets eine Insel der Geborgenheit, wo ich in schweren Zeiten Zuflucht fand.
    [286] Victor tröstet mich auf seine Weise, patscht mir ins Gesicht und greift mir keck in den Mund. Er will spielen, gekitzelt werden, Spaß haben, auf den Bauch geküsst werden, und ich gehorche. Ich kann mir gar nicht vorstellen, mein heißgeliebtes Schätzchen wieder herausrücken zu müssen.
    »Du kleiner Mistkerl«, sage ich. »Du wusstest es schon immer und hast es mir nicht verraten. Du warst vom ersten Moment an ein Papakind, ihr beide habt euch auf Anhieb verstanden. Und mich habt ihr für dumm verkauft!«
    Victor grinst durchtrieben und kneift mir mit allen seinen schwachen Kräften in die Brust.
    »Alter Busengrabscher«, sage ich.
    »Rö, rö«, antwortet er.
    »Und jetzt sollen wir dich wieder hergeben?«, frage ich ihn. »Kommt überhaupt nicht in Frage!«
    Victor meint: »Agu!«
    Plötzlich dämmert mir, dass unsere Chancen durch die neuen Erkenntnisse hundertprozentig gestiegen sind. Patrick als leiblicher Papa kann völlig legale Rechte geltend machen, er muss seine Vaterschaft allerdings erst noch

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