Kuehler Grund
sein Vater. Erst an diesem Morgen hatte er die Gelegenheit gehabt, ihre alte Freundschaft wieder aufleben zu lassen. Aber er hatte sie ungenutzt verstreichen lassen, und warum? Wegen seiner Arbeit.
Und als ob das noch nicht genug wäre, hatte der Tag auch noch mit dem Komposthaufen-Fiasko auf der Thorpe Farm geendet. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie auf der Dienststelle über ihn geredet wurde. In wenigen Stunden würde sich jeder Polizist in der Dienststelle E und womöglich in ganz Derbyshire das Maul über ihn zerreißen. Der Berg, den er erklimmen musste, um sich des Andenkens seines Vaters würdig zu erweisen, wurde höher und höher. In diesem Augenblick sah er für ihn wie der Mount Everest aus.
»Du hast gerade den Aufruf der Vernons verpasst«, sagte Matt.
»Ja? Und wie war es?«
»Unecht«, sagte Kate.
Cooper nickte. Er ließ sich in einen Sessel sinken und starrte den Fernseher an, ohne ihn zu sehen. Er hatte den Kopf voller Sorgen und Ängste. Wie sollte er sich überwinden, morgen wieder zur Arbeit zu gehen? Wie sollte er am Nachmittag den Besuch im Krankenhaus bewältigen, für den er sich frei genommen hatte, den Besuch, bei dem seine Mutter nicht mehr unter Beruhigungsmitteln stehen würde? Es dauerte einige Sekunden, bis er merkte, dass Kate mit ihm redete.
»Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Alles in Ordnung, Ben?«
»Ja, alles bestens.«
»Ich wollte fragen, ob du heute Abend hier bleibst. Dann mache ich dir später noch etwas zu essen.«
Er konnte nicht zugeben, dass er es im Farmhaus einfach nicht aushielt. Ständig wurde er von dem Zwang getrieben, nach oben zu gehen und die Tür zum Zimmer seiner Mutter aufzumachen, obwohl er wusste, dass sie nicht da war. Es war wie ein Drang, die schlimmsten Augenblicke noch einmal zu durchleben, als ob er Buße tun müsste.
»Ah, nein. Ich wollte vielleicht noch ein Bier trinken gehen. Hast du Lust mitzukommen, Matt?«
Ihm entging nicht, dass Kate rasch den Arm seines Bruders drückte, wodurch sie deutlich zum Ausdruck brachte, was sie von seinem Vorschlag hielt.
»Nein, danke, Ben. Heute nicht. Ich muss morgen früh raus, weil ich auf der Südweide Kaninchen schießen will. Vielleicht morgen Abend, hm?«
»Gut.«
Cooper stieg in seinen Wagen und fuhr automatisch in Richtung Edendale, wo es eine Hand voll Pubs gab, in denen er hin und wieder verkehrte. Aber als er den Stadtrand erreichte und die vertrauten Umrisse der steinernen Giebel und der Schieferdächer im Dämmerlicht vor sich sah, überlegte er es sich anders. Er bog in eine Seitenstraße ab und fuhr über den Hügel nach Moorhay.
Das Dorf sah friedlich aus. Es waren keine Touristen und keine Polizisten zu sehen, nur die grünen Mülltonnen standen in einer Reihe am Straßenrand. Die Bewohner hatten die Türen hinter sich zugezogen, mancher von ihnen sicher mit einem eigenen Geheimnis, das er hütete.
Einige Schritte vor dem Dial Cottage hielt Cooper an. Er blieb eine Weile im Auto sitzen und beobachtete die Tür. Vielleicht täuschten ihn die Abenddämmerung, der Stress des vergangenen Tages oder seine heimlichen Hoffnungen. Aber er bildete sich ein, Helen Milner aus dem Cottage kommen zu sehen, genau wie am Morgen – ein warmes, lebendiges Leuchten vor dem dunklen Eingang. Er erinnerte sich an die Enttäuschung, die über ihr Gesicht gehuscht war, als sie begriff, dass er nicht zu ihr wollte. Er erinnerte sich an Gwen Dickinsons Worte: »Sie redet viel von Ihnen.« Konnte das wahr sein? Hatte Helen an ihn gedacht, so wie er an sie?
Cooper wiederholte die letzten Sätze, die zwischen ihnen gefallen waren: »Dann bist du also nicht immer Polizist?«, hatte sie gefragt. »Und was bist du für ein Mensch, wenn du einfach nur Ben Cooper bist?« – »Hättest du nicht Lust, das herauszufinden?« Und schließlich hatte sie gesagt: »Vielleicht.«
Er wendete ihre Worte hin und her, prüfte ihre Stimme auf verborgene Untertöne und versuchte, sich ganz genau an ihren Gesichtsausdruck und ihre Kopfhaltung zu erinnern, als sie sich schließlich von ihm abgewandt hatte. Der Tag würde kommen, versprach er sich. Der Tag würde mit Sicherheit kommen, an dem er kein Polizist war. Aber jetzt war es noch nicht so weit.
Er ließ den Toyota an und fuhr die letzten hundert Meter über das Kopfsteinpflaster bis vor den Drover. Für einen Mittwochabend herrschte in dem Wirtshaus viel Betrieb. Doch in ihrer angestammten Ecke saßen die drei alten Männer – Harry Dickinson, Wilford Cutts
Weitere Kostenlose Bücher