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Kuehler Grund

Titel: Kuehler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Booth
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zurück, die ihnen versicherten, dass er ganz in der Nähe wohne. Obwohl seine Freunde ihn stützten, musste Sam sich bereits nach wenigen Schritten auf eine Mauer setzen. Die Beine taten ihm so weh, dass er kaum Luft bekam. Er zündete sich eine Zigarette an und sah blinzelnd auf die andere Straßenseite hinüber, wo die Grabsteine auf dem Friedhof weiß in der Sonne leuchteten.
    »Da könnt ihr mich auch bald hinbringen«, sagte er trocken.
    »Da landen wir früher oder später alle«, sagte Wilford.
    »Ein Wettrennen kann ich euch nicht liefern. Aber lange wird es nicht mehr dauern.«
    »Du musst dich damit abfinden«, sagte Harry, »dass der Tod in unserem Alter hinter jeder Ecke lauern kann.«
    »Wisst ihr noch, damals im Bergwerk, als ich fast gestorben wäre?«, fragte Sam.
    »Das ist auch schon ein paar Jährchen her.«
    Sam warf einen Blick auf seine Beine. »Aye, aber ein Andenken ist mir geblieben.«
    Die drei Männer starrten schweigend vor sich hin, ohne die vorbeifahrenden Autos oder die jungen Wanderer wahrzunehmen, die ihnen ausweichen mussten.
    Seit dem Unfall in der Glory Stone Mine waren mehr als zwanzig Jahre vergangen. Sie waren in einem knapp zwei Meter breiten und mehr als dreißig Meter hohen abgebauten Flöz gewesen. Der Streb endete in einem mit Kalzitgeröll bedeckten Hang, über dem, in fast zwanzig Metern Höhe, ein Bergmann mit dem Bohrhammer arbeitete, die Silhouette nur vom Schein seiner Helmleuchte hervorgehoben. Die Luft war rauchig vom Sprengen, und das Licht verlor sich nach oben in der dämmerigen Dunkelheit. Es war eine riesige, dunstige Höhle voller Grau- und Schwarztöne, die säuerlich nach Sprengstoff roch und in der dichter Staub hing.
    Sam war der Mann am Ende des Strebs gewesen. Er war damals Mitte fünfzig gewesen, ein erfahrener Bergmann, der fast sein ganzes Leben unter Tage gearbeitet hatte. Als der Bohrhammer das brüchige Gestein spaltete und der Boden unter seinen Füßen wegbrach, wurde er nach hinten geschleudert und stürzte, in den zuckenden Schatten hilflos um sich schlagend, bis an den Fuß des Hanges hinunter, wo er unter einer Kalzitlawine begraben wurde. Wilford hatte Harry gesucht, und zusammen hatten sie Sam im Dunkeln mit den bloßen Händen ausgegraben und weggeschleppt. Dass er sich beide Beine gebrochen hatte, merkten sie erst, als er zu schreien anfing.
    »Wenn die Schmerzen unerträglich wären«, sagte Wilford wie zu sich selbst, »würde man sich dann das Leben nehmen?«
    Sam machte ein nachdenkliches Gesicht. »Aye, ich glaube schon.«
    Harry nickte. »Wenn man sonst nichts mehr vom Leben hätte.
    Keine Hoffnung. Ich glaube, dann bleibt einem nichts anderes übrig.«
    »Kommt darauf an, woran man glaubt«, sagte Wilford. »Findet ihr nicht?«
    »Wie meinst du das?«
    »Manche Leute denken, es ist falsch, sich das Leben zu nehmen.«
    »Ja, ja, die Religion.« Sam schmunzelte.
    »Selbstmord ist eine Sünde«, sagte Wilford. »Oder, Harry?«
    Harry zündete seine Pfeife an. Die beiden anderen fassten sich in Geduld. Sie spürten, dass er ein Urteil oder eine Entscheidung verkünden würde. Harry konnte immer dann am besten denken, wenn seine Pfeife brannte.
    »Meiner Meinung nach«, sagte er, »gibt es verschiedene Arten von Sünden. Eine Sünde ist nicht das Gleiche wie das Böse. Eine Sünde würde Gott vergeben.«
    Sie nickten. Es klang richtig und vernünftig. Keiner von ihnen hatte seine fast acht Jahrzehnte hinter sich gebracht, ohne die eine oder andere Sünde zu begehen.
    »Aber man bräuchte schon ein bisschen Mut dafür. Es gibt keine leichte Methode.«
    »Man könnte Schlaftabletten nehmen.«
    Harry räusperte sich verächtlich. »Pillen sind was für Weiber, Sam.«
    »Man könnte sich irgendwo runterstürzen. Von der Raven’s Side zum Beispiel«, schlug Wilford vor.
    »Zu unappetitlich. Außerdem wäre man auch nicht unbedingt gleich tot.«
    Sie schauderten. »Das wäre nichts.«
    »Und ich habe sowieso Höhenangst. Mir wird schon schwindelig, wenn ich bloß irgendwo runtergucke.«
    »Siehst du.«
    »Man könnte sich natürlich aufhängen«, sagte Harry. »Wenn man weiß, wie man den Knoten richtig bindet.«
    »Und man muss tief genug springen, sonst …«
    Wilford spitzte die Lippen und fuhr sich mit den Fingern durch das weiße Haar. »Was sonst?«
    »Sonst ist es kein schneller Tod. Man erdrosselt sich, und das geht langsam.«
    »Ich habe mal gelesen, dass es Kerle gibt, die extra so tun, als ob sie sich aufhängen«, sagte Sam.

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