Kuehler Grund
Graham Vernon durchaus zuzutrauen.«
Helen klang sehr bitter, es klang nach mehr als Empörung über die Vernachlässigung eines jungen Mädchens. Man musste kein Polizeibeamter sein, um zu wissen, dass heutzutage weitaus schlimmerer Missbrauch an der Tagesordnung war. Cooper dachte an seine Nichten Josie und Amy und ballte die Fäuste. Er wollte gar nicht daran denken, was er tun würde, wenn ihnen jemand zu nahe käme.
»Sie hat es richtig ausgekostet, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen«, sagte Helen. »Aber ich hatte den Eindruck, dass es eher eine Show für Daddy war. Sie war Papas Liebling. Obwohl Charlotte Vernon dir vermutlich etwas anderes erzählen würde. Für Charlotte war Laura ein Engel, und sie glaubte wirklich, dass sie keine Ahnung hatte, was sich auf den Partys abspielte. Ich bin mir sicher, das hat Laura ganz besonders gereizt. Sie hat die Spannung genossen, ein gefährliches Leben zu führen und in ein großes Geheimnis eingeweiht zu sein.«
Cooper fragte sich, worauf sich diese Einschätzung gründete, aber er hatte noch zu viele andere Fragen auf dem Herzen, um sich auf einen Nebenschauplatz zu begeben.
»Papas Liebling?«
»Das kannst du verstehen, wie du willst. Stell dir ruhig das Schlimmste vor. Meiner Meinung nach ist Graham Vernon zu allem fähig.«
»Du kannst ihn wirklich nicht leiden, nicht wahr?«
»Ich hasse ihn.«
Er runzelte die Stirn. Das Wort hassen schien nicht zu Helen zu passen.
»Und du, Helen?«, fragte er vorsichtig. »Wie bist du auf diese Partys geraten?«
»Ich wurde eingeladen, weil ich Graham Vernon ein paar Wochen vorher bei meinen Eltern kennen gelernt hatte.«
»Ich nehme an, er hatte ein Auge auf dich geworfen.«
Sie seufzte. »Ich fasse es bis heute nicht, wie naiv ich war. Daddy wollte nicht, dass ich hinging, aber er hat mir nicht gesagt, warum. Ich fand es aufregend. Aufregender jedenfalls als das Lehrerzimmer der Grundschule. Anfangs war es auch recht harmlos. Alle waren sehr nett. Richtig aufmerksam.« Im Telefonhörer vibrierte es, als ob die Erinnerung sie schaudern ließ. »Ich habe etwas zu viel getrunken, aber nicht mehr als alle anderen auch. Ich wurde ziemlich schnell wieder nüchtern, als Graham Vernon mich in ein Schlafzimmer zerrte.«
Ben Cooper dachte zuerst, er hätte sich verhört. Helens Worte ließen vor seinem geistigen Auge kein rationales Bild entstehen. Das Bild, das er hatte, war falsch. Völlig falsch.
»Warte mal. Soll das etwa heißen …«
Aber Helen hörte nicht zu. Sie war gefangen von ihren Erinnerungen. »Er ist so ein kräftiger Mann. Er war viel zu stark für mich. Bevor ich wusste, was los war, hatte er mich auf das Bett gestoßen, zwischen all die teuren Mäntel, und sich auf mich geworfen, sodass ich kaum noch Luft bekam. Er lachte die ganze Zeit, als ob er es spaßig fand, wie ich mich wehrte. Ich rieche seine Weinfahne heute noch und spüre, wie sich seine Finger in meine Arme krallen, das Gesicht so dicht über mir, dass ich die Augen schließen musste …«
Cooper wartete ihren Redefluss schweigend ab. Am liebsten hätte er ihr gesagt, sie solle aufhören, er hätte schon genug Informationen. Manchmal schadete zu viel Wissen nur. Doch es brach immer weiter aus ihr heraus, kalt und schnell, wie ein Bach, der vom Wintereis befreit ist.
»Das Schlimmste war, dass ich mich nicht überwinden konnte, um Hilfe zu rufen. Weil ich in seinem Haus war, Ben. Es war mir peinlich, zu rufen oder zu schreien. Peinlich! Das klingt lächerlich, nicht wahr? Vollkommen hirnrissig. Ich wollte keinen Ärger machen.«
Zuletzt versagte ihr die Stimme, und hinter ihrer emotionslosen Schilderung trat die Wahrheit hervor. Cooper hatte sich noch nie so hilflos gefühlt, noch nie so sprachlos.
»Ich denke immer an die vergewaltigten Frauen«, sagte Helen, »die vor Gericht erklären müssen, warum sie sich nicht gewehrt oder um Hilfe gerufen haben. Vor jenem Abend konnte ich sie nie verstehen, Ben. Aber jetzt verstehe ich alles.«
Cooper erinnerte sich an einen Bericht über den Prozess eines berüchtigten amerikanischen Serienkillers, der für schuldig befunden worden war, mehrere Frauen brutal vergewaltigt und ermordet zu haben. Als der Richter den Mörder zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilte, machte er die berühmt gewordene Bemerkung: »Der männliche Sexualtrieb ist so stark, dass er in keinem Verhältnis zu dem Zweck steht, dem er dient.« Manchen Männern diente er allein dem Zweck der Machtausübung.
»Es war
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