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Kuehles Grab

Titel: Kuehles Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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senkte den Blick und kraulte Bella am Kinn. »Selbstverständlich spreche ich von dir, Schätzchen«, säuselte er.
    Ich musste unwillkürlich lächeln, nahm mich aber sofort wieder zusammen. »Und warum sind Sie so oft in diesem Park?«
    Er deutete mit dem Kopf zur Ecke an der Atlantic Avenue. »Ich arbeite mit den Obdachlosen. Nur weil sie kein Dach über dem Kopf haben, sollte man ihnen nicht das Wort Gottes vorenthalten.«
    Dagegen konnte ich nichts vorbringen.
    »Wie auch immer«, fuhr er mit ernsterer Stimme fort, »ich gestehe, dass ich nach Ihnen Ausschau gehalten habe.«
    Ich schwieg, mein Pulsschlag beschleunigte sich jedoch, während alle Alarmglocken in meinem Kopf schrillten.
    »Sie sind nicht bei der Polizei«, stellte er fest.
    Ich gab keine Antwort.
    »Aber man hat Sie mit zu dem Tatort genommen.« Er musterte mich. »Deshalb dachte ich erst, Sie seien eine Art Expertin. Eine Botanikerin oder Pathologin. Ich weiß nicht viel von solchen Dingen – ich sehe nur die Gerichtsshows im Fernsehen. Aber ich habe eine ganz gute Menschenkenntnis und glaube nicht mehr, dass Sie eine Wissenschaftlerin oder von der Polizei sind. Das heißt … Sie könnten eine Familienangehörige sein. Eine Verwandte von einem dieser armen Mädchen. Um eine Mutter zu sein, sind Sie zu jung. Vielleicht eine Schwester? Zumindest ist das meine Theorie. Sie kannten eines der Mädchen, die in der unterirdischen Kammer gefunden wurden – dafür haben Sie mein Mitgefühl.«
    Ich nickte langsam. Eine Schwester. Das kam der Wahrheit ziemlich nahe.
    Charlie lächelte. »Mann!« Mit einer übertriebenen Geste tat er so, als würde er sich die Stirn abwischen. »Ich habe so was im Gefühl. Und ich irre mich nicht oft. Der Herr hat mir diese Gabe mit in die Wiege gelegt. Und vorerst nutze ich sie, um sein Werk zu tun. Sobald ich das hinter mir habe, versuch ich's am Pokertisch. Ich möchte mir auf meine alten Tage noch einen Cadillac zulegen.«
    Sein Lächeln war ansteckend. Ich schmunzelte auch, während Bella um uns herumtänzelte. Sie war hin und weg von ihrem neuen Freund.
    »Also schön«, sagte ich. »Ich bin eine Verwandte. Weshalb interessiert Sie das?«
    Charlie wurde augenblicklich ernst und schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich kann nicht schlafen. Das mag verrückt klingen. Ich bin Pfarrer. Wenn ich nicht weiß, wozu das Böse fähig ist, wer sollte es dann wissen? Ich bin Idealist. Ich habe oft gemerkt, wenn mir das wahre Böse nahe kam. Ich konnte es fühlen und riechen. Christopher Eola stank nach Boshaftigkeit. Dennoch ahnte ich in all den Jahren im Boston State Mental nichts von diesem fürchterlichen Massengrab. Wenn ich durch die Straßen von Mattapan ging, hätte ich mir niemals vorstellen können, dass junge Mädchen aus den Elternhäusern entführt wurden. Auf meinen Spaziergängen durch den Wald neben der Klinik habe ich nie den Schrei eines Opfers gehört. Und ich streifte oft durch das Gelände. Viele von uns taten das. Es ist eines der schönsten Fleckchen Natur in der Gegend; wir wären Narren, wenn wir Gottes Geschenke nicht genießen würden. Und jedes Mal, wenn ich über die Wiesen oder in den Wald ging, fühlte ich nur die wahre Nähe zu Gott, sonst nichts.«
    Er schaute auf und sah mich eindringlich mit seinen blauen Augen an. »Es erschüttert mich bis ins Innerste, junge Frau. Was für ein Geistlicher bin ich überhaupt, solange die Nähe des Bösen nicht zu spüren? Wie kann ein Blinder Gottes Botschaft weitertragen?«
    Mir fiel nichts ein, was ich dazu sagen konnte. Bisher hatte noch nie ein Geistlicher mit mir über Glaubensfragen diskutiert. Allerdings wurde mir rasch klar, dass Charlie Marvin an meinen Ansichten gar nicht interessiert war.
    »Es wurde zu einer wahren Obsession«, erklärte er. »Dieses Grab am Boston State Mental, die Seelen der armen Mädchen. Ich habe einmal gefehlt, und jetzt ist es meine Pflicht, nicht noch einmal zu versagen. Ich würde den Familien der Opfer gern meine Hand reichen, aber bisher sind die Leichen noch nicht identifiziert. Sie sind die einzige bisher bekannte Familienangehörige. Und ich stehe Ihnen zur Verfügung.«
    Ich runzelte, noch immer verunsichert, die Stirn. »Ich verstehe nicht. Was wollen Sie?«
    »Es ist nicht an mir, etwas zu fordern, mein Kind. Ich bin hier, um zu reden – über alles und jeden, wenn Sie möchten. Kommen Sie, setzen wir uns. Es ist kalt, es ist spät; Sie sind in den Park gekommen, statt sich in Ihr warmes, kuscheliges Bett zu

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