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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Kommunist, Mitglied der Komintern, den man der Spionage beschuldigte. Er hatte wunderbares lockiges Haar, tiefblaue Augen, einen kindlich geschnittenen Mund. Russisch sprach er fast nicht. Ich traf ihn in einer Baracke, die so voll war mit Menschen, dass man im Stehen schlafen konnte. Wir standen nebeneinander, Fritz lächelte mir zu und schloss die Augen.
    Der Raum unter den Pritschen war zum Bersten voll mit Menschen, man musste warten, um sich niederzuhokken, hinzuhocken, sich dann irgendwo an eine Pritsche, an einen Pfosten, an einen fremden Körper anzulehnen und einzuschlafen. Ich wartete mit geschlossenen Augen. Plötzlich sank neben mir etwas zusammen. Mein Nachbar Fritz David war umgefallen. Bestürzt stand er auf.
    »Ich bin eingeschlafen«, sagte er erschrocken.
    Dieser Fritz David war der erste aus unserer Etappe, der ein Päckchen bekam. Das Päckchen hatte ihm seine Frau aus Moskau geschickt. In dem Päckchen waren ein Samtanzug, ein Nachthemd und eine große Fotografie einer schönen Frau. In diesem Samtanzug hockte er auch neben mir.
    »Ich habe Hunger«, sagte er lächelnd und wurde rot. »Ich habe großen Hunger. Bringen Sie mir etwas zu essen.«
    Fritz David wurde verrückt, und man brachte ihn irgendwohin fort.
    Das Nachthemd und die Fotografie wurden ihm schon in der ersten Nacht gestohlen. Wenn ich später von ihm erzählte, konnte ich es immer nicht fassen und und empörte mich: Wer braucht denn eine fremde Fotografie, wozu?
    »Alles wissen auch Sie nicht«, sagte mir einmal ein pfiffiger Gesprächspartner. »Dreimal dürfen Sie raten. Die Fotografie wurde von Ganoven gestohlen, für die ›Séance‹, wie die Ganoven sagen. Zum Onanieren, mein naiver Freund …«
    Tot ist Serjosha Kliwanskij, mein Kamerad aus dem ersten Studienjahr an der Universität, den ich zehn Jahre später in der Etappenzelle des Butyrka-Gefängnisses traf. Er war 1927 aus dem Komsomol ausgeschlossen worden wegen eines Vortrags über die chinesische Revolution, den er in einem Zirkel für aktuelle Politik gehalten hatte. Sein Studium konnte er abschließen, und er arbeitete als Ökonom beim Staatlichen Plankomitee, bis sich dort die Verhältnisse änderten und Serjosha gehen musste. Er hatte die Aufnahmeprüfung für das Orchester des Stanislawskij-Theaters bestanden und war zweite Geige – bis zu seiner Verhaftung 1937. Er war ein Sanguiniker, ein Spaßvogel, die Ironie verließ ihn nicht. Das Interesse am Leben, an seinen Ereignissen auch nicht.
    In der Etappenzelle liefen alle fast nackt herum, übergossen sich mit Wasser, schliefen auf dem Boden. Man musste ein Held sein, um die Nacht auf den Pritschen auszuhalten. Und Kliwanskij flachste:
    »Das ist Folter durch Verdampfen. Danach werden sie uns im Norden der Folter durch Vereisen unterziehen.«
    Das war eine präzise Vorhersage, aber es war nicht das Gejammer eines Feiglings. Im Bergwerk war Serjosha fröhlich und mitteilsam. Enthusiastisch versuchte er, sich den Ganovenwortschatz anzueignen, und freute sich wie ein Kind, wenn er mit der entsprechenden Intonation Ganovenausdrücke gebrauchte.
    Jetzt werde ich mich wohl fläzen, sagte Serjosha, wenn er auf die obere Pritsche kroch.
    Er mochte Gedichte, im Gefängnis rezitierte er oft aus dem Gedächtnis. Im Lager rezitierte er keine Gedichte.
    Er teilte den letzten Bissen, genauer, er teilte ihn noch … Das heißt, er hat die Zeit nicht mehr erlebt, als niemand mehr einen letzten Bissen hatte, als niemand mehr etwas mit anderen teilte.
    Tot ist der Brigadier Djukow. Ich weiß und wusste seinen Vornamen nicht. Er war ein »
bytowik
«, mit Artikel 58 hatte er nichts zu tun. In den Lagern auf dem Festland war er sogenannter Kollektivvorsitzender, er war nicht gerade romantisch gestimmt, aber wollte »eine Rolle spielen«. Er kam im Winter an und hielt schon auf der ersten Versammlung eine erstaunliche Rede. Die
bytowiki
hatten manchmal Versammlungen – denn wer Allerwelts- und Dienstvergehen begangen hatte, galt, ebenso wie die Gewohnheitsverbrecher, als »Volksfreund«, der zu bessern, nicht zu bestrafen war. Im Unterschied zu den »Volksfeinden«, den nach Artikel 58 Verurteilten. Später, als man den Gewohnheitsverbrechern Artikel 58, Punkt 14 gab – Sabotage (für Arbeitsverweigerung) –, wurde der ganze Paragraph 14 aus dem Artikel 58 herausgenommen und von den langjährigen und vielfältigen Strafmaßnahmen entlastet. Die Gewohnheitsverbrecher galten immer als »Volksfreunde« – auch noch in der

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