Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Kochgeschirr gegossen wird.
»Romanisten« gibt es hier mehr als genug. Auf diese Brotrinde, auf die Suppe erheben Dutzende hungriger Menschen Anspruch, und es hat Fälle gegeben, wo ein halbtoter »Romanist« im Erzählen in eine Hungerohnmacht fiel. Zur Vorbeugung in solchen Fällen bürgerte es sich ein, den »Romanisten« vor dem »Stanzen« ein Süppchen schlürfen zu lassen. Dieser vernünftige Brauch hat sich durchgesetzt.
In den dichtbevölkerten Lager»isolatoren« – einer Art Gefängnis im Gefängnis – kontrollieren gewöhnlich die Ganoven die Essensverteilung. Gegen diese Zustände kommt die Verwaltung nicht an. Nachdem sie selbst sich sattgegessen haben, gehen die restlichen Barackenbewohner ans Essen.
Eine riesige Baracke mit Lehmboden wird von einem »Benzinlämpchen« erleuchtet, einer Funzel.
Alle außer den Dieben haben den ganzen Tag gearbeitet, haben viele Stunden in eisiger Kälte zugebracht. Der »Romanist« möchte sich wärmen, er möchte schlafen, sich hinlegen, sich setzen, aber mehr noch als Wärme und Schlaf möchte er essen, irgendetwas essen. Und mit einer unwahrscheinlichen, märchenhaften Willensanstrengung mobilisiert er sein Hirn für einen zweistündigen »Róman«, der die Ganoven bei Laune hält. Und kaum hat er den Krimi beendet, schlürft der »Romanist« das schon kalte, von einer Eiskruste bedeckte »Süppchen« und leckt das selbstgemachte Blechgeschirr aus, schleckt es aus. Einen Löffel braucht er nicht – Finger und Zunge helfen ihm besser als jeder Löffel.
Erschöpft, ständig vergeblich versuchend, den dünnen und sich selbst auffressenden Magen wenigstens für einen Moment zu füllen, dient sich der ehemalige Dozent als »Romanist« an. Der Dozent weiß, dass er im Fall des Erfolges, des Beifalls von den Abnehmern – ernährt und von Schlägen verschont wird. Die Ganoven glauben an seine Fähigkeiten als Erzähler, wie abgezehrt und abgequält er auch sei. Im Lager machen nicht die Kleider Leute, und jedes »Feuer« (ein farbiger Ausdruck für einen Abgerissenen mit seinen zerrissenen Lumpen und der an vielen Stellen der Weste herausgerissenen und abstehenden Watte) kann sich als großer »Romanist« erweisen.
Wenn er sich die Suppe verdient hat und bei Erfolg auch eine Brotkruste, sitzt der schmatzende »Romanist« schüchtern in einer dunklen Ecke der Baracke und zieht den Neid der Kameraden auf sich, die nicht »Rómans stanzen« können.
Bei noch größerem Erfolg bietet man dem »Romanisten« auch Machorka an. Das ist schon der Gipfel der Glückseligkeit! Dutzende Augen werden seinen zitternden Fingern folgen, die den Tabak kneten und die Zigarette drehen. Und wenn der »Romanist« mit einer ungeschickten Bewegung ein paar kostbare Machorkakörnchen auf die Erde verstreut, kann er echte Tränen weinen. Wie viele Hände werden sich ihm aus der Dunkelheit entgegenstrecken, um die Zigarette am Ofen für ihn anzurauchen und beim Anrauchen wenigstens einmal Tabakrauch einzuatmen. Und so manche schmeichelnde Stimme wird hinter seinem Rücken die berühmte Formel sagen, »gib mir einen Zug«, oder sie benutzt das rätselhafte Synonym für diese Formel, »vierzig …« .
Das sind der »Róman« und der »Romanist« im Lager.
Vom Tag seines Erfolges an darf der »Romanist« nicht beleidigt und nicht geschlagen werden, man füttert ihn sogar durch. Er fragt die Ganoven schon kühn nach einer Zigarette, und die Ganoven lassen ihm die Kippen übrig – er hat jetzt den Rang eines Höflings, trägt die Uniform eines Kammerjunkers …
Jeden Tag muss er bereitstehen mit einem neuen »Róman« – die Konkurrenz ist groß! –, und eine Erleichterung wird für ihn der Abend sein, an dem seine Herren nicht in Stimmung sind, kulturelle Nahrung aufzunehmen, »Kultur einzuschieben«, und er schlafen kann wie ein Sack. Doch auch der Schlaf kann rüde unterbrochen werden, wenn es den Ganoven plötzlich einfällt, irgendeine Kartenschlacht abzusagen (was natürlich sehr selten vorkommt, denn irgendein »Terz« oder »Stoß« ist wichtiger als jeder »Róman«).
Unter diesen hungrigen »Romanisten« gibt es auch Leute mit einer »Idee«, besonders nach ein paar relativ satten Tagen. Sie versuchen, ihren Zuhörern auch Seriöseres zu erzählen als den »Klub der Herzbuben«. So ein »Romanist« fühlt sich als Kulturarbeiter am Ganoventhron. Unter ihnen finden sich ehemalige Literaten, die stolz darauf sind, ihrer eigentlichen Profession unter so erstaunlichen Umständen
Weitere Kostenlose Bücher