Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
ist. Die Ganoven sind neidisch auf die Intelligenz, sie hassen sie und wittern in jeder unnötigen »Kultur« etwas Fremdes, Fernes. Und zugleich trifft dieser »Bel ami« oder »Graf von Monte Christo« in Gestalt eines »Rómans« – auf allgemeines Interesse.
Natürlich könnte ein lesender Ganove dem zuhörenden Ganoven erklären, worum es hier geht, aber … die Macht der Traditionen ist groß.
Kein einziger Literaturforscher, kein einziger Memoirenschreiber berührt auch nur am Rande diese Sorte der mündlichen Literatur, die seit unvordenklichen Zeiten bis in unsere Tage existiert.
Ein »Róman«, in der Terminologie der
urkatschi
, ist nicht nur ein Roman, und dabei geht es nicht um die veränderte Betonung. Die Betonung verändert haben sowohl die lesekundigen Zimmermädchen, die sich für Anton Kretschet begeisterten, als auch Gorkijs Nastja , die die »Schicksalhafte Liebe« verschlang.
Das »Rómans-Stanzen« ist uralter Ganovenbrauch, mit all seiner religiösen Unabdingbarkeit, die zum Credo des Ganoven gehört neben dem Kartenspiel, dem Zechen, der Ausschweifung, dem Diebstahl, den Ausbrüchen und den »Ehrengerichten«. Das ist ein obligatorisches Moment des Ganovenlebens, ihre schöne Literatur.
Der Begriff »Róman« ist ziemlich umfassend. Er schließt verschiedene Prosagattungen ein. Das sind der Roman wie die Novelle und jede Erzählung, ein authentischer und ethnographischer Essay, eine historische Arbeit ebenso wie ein Theaterstück, eine Radioinszenierung, ein nacherzählter Kinofilm, den man gesehen hat und der von der Sprache des Films zum Libretto zurückgekehrt ist. Das Gerüst der Fabel ist umflochten mit eigenen Improvisationen des Erzählers, und im strengen Sinne ist der »Róman« eine Augenblicksschöpfung, so wie eine Theateraufführung. Er entsteht ein einziges Mal und wird noch ephemerer und kurzlebiger, als die Kunst eines Schauspielers auf der Bühne, denn der Schauspieler hält sich doch an einen festen Text, den der Dramatiker ihm gibt. Im berühmten »Improvisationstheater« wurde wesentlich weniger improvisiert, als das jeder Gefängnis- oder Lager-»Romanist« tut.
Die alten »Rómans« wie »Klub der Herzbuben« oder »Fürst Wjasemskij« sind schon mehr als fünfzig Jahre aus dem russischen literarischen Leben verschwunden. Die Literaturhistoriker lassen sich nicht weiter herab als bis zu »Rocambole« oder Sherlock Holmes.
Die russische Trivialliteratur des vorigen Jahrhunderts hat sich bis heute in der Unterwelt der Ganoven gehalten. Die Ganoven-»Romanisten« erzählen, »stanzen« eben diese alten »Rómans«. Das sind gewissermaßen die Ganoven-Klassiker.
Der
frajer
kann in den allermeisten Fällen ein Werk nacherzählen, das er »in Freiheit« gelesen hat. Vom »Fürsten Wjasemskij« erfährt er selbst, zu seinem großen Erstaunen, erst im Gefängnis, wenn er einem Ganoven-»Romanisten« zugehört hat.
»Es war in Moskau, auf dem Rasguljaj , dort kehrte der Graf Potozkij oft in eine vornehme ›Spelunke‹ ein. Er war ein junger, kräftiger Bursche.«
»Nicht so schnell, nicht so schnell«, bitten die Zuhörer.
Der »Romanist« verringert das Erzähltempo. Gewöhnlich erzählt er bis zur völligen Erschöpfung, denn ehe nicht wenigstens einer der Zuhörer eingeschlafen ist, gilt es als anstößig, das Erzählen abzubrechen. Abgeschlagene Köpfe, Dollarbündel und Edelsteine, die sich im Magen oder Darm irgendeiner vornehmen »Marianna« finden – lösen einander in dieser Erzählung ab.
Schließlich ist der »Róman« zu Ende, der entkräftete »Romanist« kriecht an seinen Platz, und die zufriedenen Zuhörer legen ihre bunten Wattedecken aus – ein unerlässliches Alltagsutensil jedes Ganoven, der auf sich hält …
So sieht der »Róman« im Gefängnis aus. Anders ist es im Lager.
Gefängnis und Arbeitslager sind unterschiedliche Dinge, weit entfernt in psychologischer Hinsicht, trotz der scheinbaren Gemeinsamkeit. Das Gefängnis ist erheblich näher am gewöhnlichen Leben als das Lager.
Jene fast immer unschuldige amateurhafte literarische Tönung, die für den
frajer
die Beschäftigung als »Romanist« im Gefängnis hat, gewinnt plötzlich einen tragischen und unheildrohenden Nachglanz.
Alles ist scheinbar wie zuvor. Dieselben Ganoven als Abnehmer, dieselben Abendstunden für die Erzählung, dieselben »Róman«-Themen. Aber hier erzählt man die »Rómans« für eine Brotrinde, für das »Süppchen«, das aus einem Konservenglas ins
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