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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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sich der junge Ganove fürs ganze Leben.
    Vielleicht möchte der erzählende Ganove wie Chlestakow auch selbst an sein inspiriertes Geflunker glauben? Er kommt sich selbst stärker und besser vor.
    Und wenn dann die Bekanntschaft der Ganoven mit ihren neuen Freunden gemacht ist, wenn die Ankömmlinge die mündlichen Fragebögen ausgefüllt haben, wenn die Wellen der Prahlerei abgeebbt sind und einige Episoden, die pikantesten, zweimal wiederholt wurden und sich so eingeprägt haben, dass jeder Zuhörer in einer anderen Situation die fremden Raubzüge für die eigenen ausgeben wird, und der Gefängnistag erscheint noch immer endlos – dann kommt irgendjemandem ein glücklicher Gedanke in den Sinn …
    »Wie wäre es, einen Róman zu stanzen?«
    Und irgendeine tätowierte Figur kriecht ins gelbe Licht der elektrischen Glühbirne, ein Licht von soviel Candela, dass das Lesen schwierig ist, setzt sich bequem zurecht und rasselt die »Eröffnung« herunter, die den routinierten ersten Zügen eines Schachspiels ähnelt:
    »In der Stadt Odessa, noch vor der Revolution, lebte ein berühmter Fürst mit seiner schönen Frau.«
    »Stanzen« bedeutet in der Gaunersprache »erzählen«, und die Herkunft dieses bildhaften Jargonausdrucks ist nicht schwer zu erraten. Der erzählte »Róman« – ist sozusagen der mündliche »Abdruck« der Erzählung.
    Der »Róman« als bestimmte literarische Form ist keineswegs unbedingt ein Roman, eine Novelle oder Erzählung. Das können auch beliebige Memoiren, ein Kinofilm oder eine historische Arbeit sein. Ein »Róman« ist immer ein fremdes namenloses Werk, mündlich dargeboten. Den Autor nennt hier niemand und kennt hier niemand.
    Die Erzählung muss lang sein, denn sie hat unter anderem den Zweck, die Zeit zu vertreiben.
    Ein »Róman« ist immer zur Hälfte improvisiert, denn man hat ihn früher irgendwo gehört und oft vergessen, und zum Teil wird er mit neuen Details ausgeschmückt – ihre Buntheit hängt von den Fähigkeiten des Erzählers ab.
    Es gibt ein paar besonders gängige, beliebte »Rómans«, ein paar Drehbuch-Gerüste, auf die das Improvisationstheater »Semperante« neidisch wäre.
    Das sind natürlich die Krimis.
    Es ist sehr interessant, dass der zeitgenössische sowjetische Krimi von den Dieben vollkommen abgelehnt wird. Nicht etwa, weil er nicht ausgeklügelt genug oder einfach stümperhaft wäre: die Sachen, die sie mit Vergnügen hören, sind noch gröber und noch stümperhafter. Wobei es in der Freiheit des Erzählers läge, den Mängeln der Erzählungen von Adamow und Schejnin abzuhelfen.
    Nein, die Diebe interessieren sich einfach nicht für die Gegenwart. »Über unser Leben wissen wir es selbst besser«, sagen sie mit gutem Grund.
    Die populärsten »Rómans« jedoch sind »Fürst Wjasemskij«, »Der Klub der Herzbuben«, der unsterbliche »Rocambole«, Reste jenes erstaunlichen – heimischen und übersetzten – Lesestoffes der Bewohner Russlands im vorigen Jahrhundert, als nicht nur Poncon du Terrail ein Klassiker war, sondern auch Xavier de Montepin mit seinen vielbändigen Romanen: »Detektiv und Mörder« oder »Unschuldig geächtet« etc.
    An Stoffen aus soliden literarischen Werken hat »Der Graf von Monte Christo« seinen festen Platz; »Die drei Musketiere« dagegen haben keinerlei Erfolg und gelten als komischer Roman. Also hatte die Idee eines französischen Regisseurs, der die »Drei Musketiere« als fröhliche Operette inszenierte, eine vernünftige Grundlage.
    Keine Mystik, keine Phantastik, keine »Psychologie«. Handlungsbetontheit und Unmittelbarkeit mit sexuellem Einschlag – das ist die Parole der mündlichen Literatur der Ganoven.
    In einem dieser »Rómans« konnte man mit großer Mühe den »Bel ami« von Maupassant erkennen. Natürlich waren der Titel und auch die Namen der Helden ganz andere, und auch die Fabel wurde einer wesentlichen Veränderung unterworfen. Aber das Grundgerüst des ganzen, die Karriere eines Zuhälters, war geblieben.
    »Anna Karenina« hatten die Ganoven-Erzähler haargenau so bearbeitet, wie es das Künstlertheater in seiner Inszenierung getan hatte. Die ganze Linie Lewin – Kitty war beiseite gefegt. Ohne alle Dekorationen und mit veränderten Familiennamen der Helden machte sie einen sonderbaren Eindruck. Leidenschaftliche Liebe, die im Nu einsetzt. Ein Graf, der die Heldin auf der Waggonplattform abdrückt. Ein Besuch der ehebrüchigen Mutter beim Kind. Ehebrecherische Tour des Grafen und seiner

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