Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Liebhaberin im Ausland. Eifersucht des Grafen und Selbstmord der Heldin. Nur anhand der Eisenbahnräder – des Tolstojschen Reims auf den Waggon in »Anna Karenina« – ließ sich verstehen, was das war.
»Jean Valjean« wird gern erzählt und angehört. Die Fehler und Naivitäten des Autors in der Darstellung der französischen Ganoven werden von den russischen Ganoven nachsichtig korrigiert.
Selbst aus der Biographie Nekrassows (offensichtlich nach einem der Bücher von K. Tschukowskij ) wurde ein haarsträubender Krimi fabriziert mit einem Helden Panow (!).
Erzählt werden diese »Rómans« von den unausgebildeten Ganoven meistenteils monoton und langweilig, selten findet man unter Ganoven-Erzählern solche Artisten, geborene Dichter und Schauspieler, die jeden Stoff mit tausend Überraschungen ausschmücken können – um solche Artisten zu hören, kommen alle Ganoven, die zu dieser Zeit gerade in der Gefängniszelle sind. Niemand schläft ein bis in den Morgen, und der Ruhm eines solchen Meisters reicht in der Unterwelt sehr weit. Der Ruhm eines solchen »Romanisten« steht der Bekanntheit eines Kaminka oder Andronikow nicht nach und übertrifft ihn noch.
Ja, und so nennt sich ein solcher Erzähler – »Romanist«. Das ist ein exakt definierter Begriff, ein Terminus aus dem Ganovenwortschatz.
»Róman« und »Romanist«.
Der »Romanist«, das heißt der Erzähler, muss natürlich nicht unbedingt ein Ganove sein. Im Gegenteil, ein
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wird als »Romanist« nicht geringer, sondern höher geschätzt, denn das, was die Ganoven erzählen, erzählen können, ist begrenzt – ein paar populäre Stoffe und Schluss. Es kann immer passieren, dass ein fremder Neuling irgendeine interessante Geschichte im Kopf hat. Wenn er diese Geschichte erzählen kann – wird er mit der herablassenden Aufmerksamkeit der
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belohnt, denn seine Sachen, das Paket, die Übergabe, kann die Kunst in solchen Fällen nicht retten. Die Orpheus-Legende ist trotz allem nur eine Legende. Aber wenn ein solcher vitaler Konflikt nicht besteht, dann bekommt der »Romanist« einen Platz auf den Pritschen neben den Ganoven und einen Napf Suppe mehr zum Mittagessen.
Übrigens muss man nicht meinen, dass die »Rómans« nur dazu da wären, um die Gefängniszeit zu vertreiben. Nein, ihre Bedeutung ist größer, tiefer, ernster und gewichtiger.
Ein »Róman« ist beinahe die einzige Form, mit der der Ganove an die Kunst herangeführt wird. Der »Róman« entspricht dem abnormen, aber starken ästhetischen Bedürfnis des Ganoven, der keine Bücher, Zeitschriften und Zeitungen liest und sich die »Kultur« in dieser ihrer mündlichen Variante »einschiebt« (ein Fachausdruck).
Das Hören von »Rómans« bildet gewissermaßen eine kulturelle Tradition, die die Ganoven überaus schätzen. »Rómans« wurden seit jeher erzählt und sind von der gesamten Geschichte der kriminellen Welt sanktioniert. Darum gilt es als guter Ton, »Rómans« zu hören, Kunst dieser Art zu lieben und zu fördern. Die Ganoven sind die traditionellen Mäzene der »Romanisten«, sie sind in diesem Geschmack erzogen, und niemand wird sich weigern, einen »Romanisten« zu hören, selbst wenn er bis zum Knacken in den Ohren gähnt. Klar ist natürlich, dass Räuberangelegenheiten, Aussprachen unter Dieben und auch das obligatorische leidenschaftliche Interesse am Kartenspiel in all seiner Verwegenheit und Ausschweifung – all das wichtiger ist als die »Rómans«.
Die »Rómans« sind in Momenten der Muße an der Reihe. Spielkarten sind im Gefängnis verboten, und obwohl ein Kartenspiel mithilfe eines Stücks Zeitungspapier, eines Rests Kopierstift und eines Stücks durchgekauten Brotes in ungewöhnlicher Geschwindigkeit hergestellt wird – hinter der man die tausendjährige Tradition von Generationen von Ganoven erkennt –, kann man doch im Gefängnis längst nicht immer spielen.
Kein einziger Ganove wird zugeben, dass er keine »Rómans« mag. Die »Rómans« sind gewissermaßen geheiligt durch das Glaubensbekenntnis der Diebe, sie gehören zu seinem Verhaltenskodex und seinen geistigen Bedürfnissen.
Die Ganoven mögen keine Bücher, lesen nicht gern. Selten, selten trifft man unter ihnen Leute, die schon als Kinder angehalten wurden, Bücher zu mögen. Solche »Monster« lesen beinahe heimlich, verstecken sich fast vor den Kameraden – sie fürchten sich vor giftigem und grobem Spott, als täten sie etwas eines Ganoven Unwürdiges, etwas, das des Teufels
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