Kürzere Tage
daß sie trinkt und Beruhigungsmittel nimmt. Klaus kümmert sich viel um sie.«
Und wie zum Schwur hob sie ihre Rechte. Im Nagelbett des Ringfingers haftete noch ein Blättchen dunkelroter Lack, aber das sah Frau Posselt nicht, nur den schweren goldenen Ring. »Schauen Sie, das ist mein Verlobungsring.« Sie zog das Schmuckstück vom Finger und wies auf den Innenrand. »In Liebe, Dein Klaus« buchstabierte sie feierlich und biß sich danach auf die Innenseite der Wange, um nicht laut loszukichern. Die alte Dame zwinkerte hinter ihren dicken Gläsern und nickte eifrig. »Ha ja, der isch schee.« Judith, die sich wieder unter Kontrolle hatte, entwarf ihre Verlobung, ein Candle-Light-Dinner im Hotel am Schloßgarten.Sie seufzte und lächelte dabei. Das Bild, das sie heraufbeschwor, war für den Moment so gut wie die Realität, in der Sören ihr den Ring auf dem zugigen Hauptbahnhof angesteckt hatte. Er war nur auf den ersten Blick ein Wertobjekt, der Stempel fehlte, und es war Judith nicht gelungen, ihre Enttäuschung zu verbergen. Aber Sören, schon im Waggon, schob seine Reisetasche mit dem Fuß in den Gang und entgegnete über die Schulter hinweg: »Den Familienschmuck kriegt erst die Richtige.«
Frau Posselt hatte später Judiths Arm genommen und sie mit energischem Zug vor die grüngelackte Haustür geführt. »Des goht net, daß Sie weiter da drauße hocket, in Ihrem Zustand. Sie hen a Verantwortung. Mir ham leider keine Kender ghet. Wisset Sie, i mach Ihne einfach uf. Wir gießet ja manchmal die Blume beim Herrn Dokter. Den Schlüssel hol ich gschwind, da könnet Sie sich nalege, Sie sehet ja aus wie’s Kätzle am Bauch.«
So war Judith neben Frau Posselt drei Treppen hoch in ihr neues Heim gestiegen.
Über der Tür grinste ein sandsteinernes Männlein, kurz und stumpig. Es hielt einen Schuh und einen Laib Brot umklammert, von dem Judith sofort wußte, daß er über Nacht nachwuchs. Beglückt schaute sie nach oben. Hutzelmännle, Pechschwitzer, Tröster! Wünsch mir Glück! Sie atmete den Geruch des Treppenhauses ein, der eine sorgfältige Kehrwoche verriet und betrachtete die blankblättrigen Clivien und Araukarien auf den Fenstersimsen. Im trüben Licht des fortgeschrittenen Nachmittags sahen sie nicht wie Wappenzeichen des Spießertums aus, sondern ehrwürdig und geheimnisvoll wie die Flora vergangener Erdzeitalter.
In Klaus’ Flur sah Judith seine Jacken und Mäntel an den Garderobenhaken und war erleichtert darüber, nicht von Annetts knallrotem Dufflecoat begrüßt zu werden. Die kleine Musiktherapeutin war häufig bei Klaus in der Hackstraße gewesen. Sie sprach laut und überdeutlich, lachte viel und strafte Judith mitder Nichtachtung, die ihr zeigte, daß sie sie als echte Konkurrenz empfand. Die Wohnung war hell und sauber. Es gab vier große Zimmer, eine Küche mit Balkon und ein geräumiges Bad mit Fenster. Judith erkannte manches Möbelstück aus der Hackstraße wieder: einen dunklen Schreibtisch, große Ledersessel, einen bunten, sicher echten Teppich an der Wand und viele Pflanzen. Klamotten- und Zeitungsstapel auf dem Fußboden sprachen eher gegen die Anwesenheit einer Frau. Vom Wohnzimmer aus sah man auf die Constantinstraße. Der hintere Teil ging nicht auf den üblichen gepflasterten Hof hinaus, sondern auf einen richtigen Garten mit Wiese, Obstbäumen und Rosen. Im Kühlschrank fand Judith Männerfutter: Dosenbier, H-Milch, abgepackte Steaks, eingelegte Chilischoten. Sie nahm ein Glas aus dem Küchenschrank und trank einen Schluck Leitungswasser. Klaus hatte schlichtes weißes Geschirr und anständige Gläser. Im Zahnputzbecher standen vier gleichermaßen struppige Bürsten. Kein Damenparfum, keine Cremetiegel. Klaus benutzte eine Munddusche und Zahnseide, las abends in Ransmayrs »Morbus Kitahara« und den VDI- Nachrichten. Gegen 17 Uhr, es wurde bereits dunkel, klingelte das Telefon. »Hier ist der Anschluß von Klaus Rapp. Bitte sprechen Sie nach dem Signalton.« Eine männliche Stimme mit schwerem Dialekt, eindeutig von dr Alb ra, meldete sich, es ging um irgendeine Uniprüfung. Judith hörte nicht mehr zu. Klaus hatte geklungen wie immer, ruhig, ein wenig amüsiert, als ob er heimlich lache.
Über dem Bett lag eine dunkelgrüne Decke. Der Stoff war kühl und glatt, schmiegte sich an ihre Wange. Den Schreibtisch, voll mit Papieren und Akten, hatte sie bewußt ignoriert, aber die Nachttischschublade zog sie jetzt auf. Alka-Seltzer, ein Päckchen Kondome, ein Foto mit
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