Kürzere Tage
Personengewimmel. Sie fischte es heraus. Party in der Hackstraße, eine Reihe leerer Rothauspullen aufgereiht auf der Fensterbank, daneben Judith, mit mürrischemGesichtsausdruck am Auge der Kamera vorbeiblickend. Sie lächelte und spürte plötzlich überwältigende Müdigkeit, die sich wie ein schweres Kissen auf ihr Gesicht drückte. Es gelang ihr noch, das Foto zurückzulegen, dann schlief sie ein.
Leonie
Von der Feuerstelle am Haus der ›Zaunkönige‹ steigt blauer Rauch auf und löst sich in der Dämmerung auf. Verkohlte Stöcke liegen halb unter Sand wie ein Tiergerippe in der Wüste. Der Zivildienstleistende, ein schmaler Junge mit Ziegenbart und tief ins Gesicht gezogener Kappe, treibt die Schafe in den Stall. Das Fell der Tiere ist dick und braungelb verfilzt. An den breiten Schwänzen baumeln Erd- und Kotbrocken wie aufgefädelte Holzperlen. Die Tiere laufen in überraschend schnellem Trab den verschlammten Pfad hinauf, blöken und drängen in ihren Unterstand. Kleine Hufe hinterlassen Abdrücke, stark und talgig steigt ein Geruch in Leonies Nase. Sie atmet tief ein. Bei günstiger Windrichtung können Schafsgeblök und -duft bis zu ihrem Balkon im dritten Stock herüberwehen. Der junge Mann füllt die Raufe mit Heu. Jetzt erst bemerkt Leonie die hellgrünen Kabel, die aus seinem Kapuzenpulli zum Gesicht hochwandern und in den Ohren verschwinden. Leonie weiß mit Sicherheit, daß sie kein Gesicht, keine Melodie mit den Namen verbinden kann, die er ihr nennen würde, wenn sie ihm mit der alten Frage käme: Was hörst du? Und er würde den Mund mitleidig verziehen, wenn sie ihm aufzählte, wer sie zu wildem Mitgrölen im Bad oder begeistertem Fummeln am Lautstärkeregler veranlaßt. Sie kann sich nicht daran gewöhnen, ihre Lieblingssongs nur noch auf Frequenzen zu finden, die sie vor kurzem als Spießerfunk verachtet hat. Lieder, bei denen sie jede Note, jeden Seufzer auswendig kennt, sind plötzlich Oldies, und die Gesichter der Sänger tauchen in Revival-Sendungen und Gala-Shows auf, vorgestellt von ergrauten Moderatoren. Die Poster über ihrem Teenie-Bett hatte sie nicht einfach mit Reißnägeln angepinnt, sondern wie richtige Bilder unter Glas gerahmt.
Doch heute bilden sich Furchen auf den hellen Stirnen derIdole, setzen sich fort in den Faltenbündeln um die Augen, den mageren runzligen Armen, die aus den Lederjacken ragen wie Stecken aus dem Sackgewand einer Vogelscheuche. Sie waren unzerstörbar, wild und grenzenlos. So wie Leonie sich fühlte, wenn sie sich zu ihren Songs über die Tanzfläche bewegte, wenn sie ihre Mutter anbrüllte oder in der tauben Sommerstille ihres Zimmers mit der besten Freundin Zungenküsse übte, bis sie heftig atmend aufeinander lagen. Danach waren sie zusammen zum Eisessen gegangen. Es wurde nie mehr darüber gesprochen, blieb, so aufregend es gewesen war, nebensächlich, nicht vergleichbar mit dem ersten Mal mit einem Jungen. Die Zeit hatte kein Limit. Grenzen schien es nicht zu geben, sie spürte jedenfalls keine. Inzwischen rasen die Tage dahin, und sie schaltet das Fernsehprogramm um, wenn Altenheime und Krankenhäuser Thema sind. Bei der morgendlichen Inspektion des eigenen Körpers vor dem Spiegel deprimiert es sie, wieder eine zartblaue Ader in der Kniekehle, eine Einkerbung im Augenwinkel gefunden zu haben. Sie ist traurig darüber, mit diesem verpickelten Jungen, der den Schafstall verriegelt, nichts mehr gemeinsam zu haben. Leonies Alptraum ist ihre 18jährige Seele in einem verrunzelten Körper, die Windel am Hintern, der Tropf im Arm, eine sexsüchtige Mumie, dazu die Vision von ihren Mädchen, die nach Australien oder China auswandern, Handytelefonate auf der Pflegestation, einmal jährlich Besuche. Barbie in alt, Daisy und Minnie als Dörrpflaumen.
Felicia gähnt und stolpert. Ihre Augen sind klein geworden. Leonie weiß, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis Kälte, Hunger und Müdigkeit den ersten Wutanfall auslösen. Plötzlich verzieht sich der kleine Mund zu einem Lachen. »Da Matti!« Leonie bekommt einen kräftigen Stoß in die Kniekehlen und fällt fast vornüber. »Buh, du bist tot! Ihr seid beide tot, ich beiße euch!« Ein etwa vierjähriger Junge, dessen blasses Gesicht und blondeStoppelfrisur über dem Vampirkostüm leichenhaft fahl wirken, springt hinter ihr hervor, packt Felicia unter den Achseln, zieht sie ein paar Schritte über den Platz und läßt sie vor dem Hühnerstall fallen. Die Windel hält den Stoß ab. Felicia kräht,
Weitere Kostenlose Bücher