Kürzere Tage
oder Triple-P-Elterntraining quakt, so gerne möchte sie auch dazugehören, sich zum innersten Punkt der Herde vordrängen. Die Kinder tun sich leichter. Lisa hat sofort ein paar kleine Zicken gefunden, die sich gegenseitig als ›Vater, Mutter, Kind‹ tyrannisieren und mit ihren frisch gestochenen Ohrlöchern angeben. Felicia wuselt zwischen den Älteren herum und genießt das Privileg, die Jüngste zu sein, vollkommen in sich ruhend, Mahlzeiten, Schlaf und Körperkontakt als Pfeiler ihrer Existenz.
Leonie hat den Kindergarten St. Anton ausgesucht. Es war ganz klar für sie, daß ihre Mädchen dorthin gehörten, wo der Heilige seinen segnenden Holzarm im Flur erhebt und die Mitarbeit am bienenübersummten Blumenpuzzle des Fronleichnamsteppichs zum Programm zählt. Simon, der Heide, hat nichts dagegen. »Solange du mich mit dem Laden verschonst! Meine Mutter ist von denen so schlecht behandelt worden. Vater unbekannt, damit wurde sie fertiggemacht.« Es gibt sicher anspruchsvollere Möglichkeiten, seinen Nachwuchs unterzubringen: Singkreise mit Frühenglisch, regelmäßige Waldwochen oder gar spielzeugfreie Zeit werden in St. Anton nicht angeboten. Die Leiterin trägt graueDauerwellen und läßt sich von den Kindern »Tante« nennen. Die Mädchen fühlen sich wohl, und neben der katholischen Sentimentalität gaben die Betreuungszeiten, von 7:30 bis 17 Uhr, den Ausschlag.
Von Hanna, die mit stoischer Gelassenheit beobachtet, wie Mattis die Rutsche hochrast und sich dann auf das Dach darüber schwingt, weiß Leonie nur, daß sie alleinerziehend ist und als Zahnarzthelferin arbeitet. Ihr dunkelblondes Haar hält sie mit einem breiten Band aus dem Gesicht, auf der schmalen Nase sitzt eine randlose Brille, demütig und erst auf den zweiten Blick sichtbar. Hanna trägt billige Turnschuhe, Jeans und einen braunen Wollponcho mit eingestrickten Tieren. Im Kindergarten gilt sie als »Supermutti«, die in jeder Mittagspause vorbeigehetzt kommt, um ihrem Sohn eines seiner zahlreichen Medikamente zu verabreichen. Janet, Lisas Lieblingserzieherin, reißt die blauen Augen auf, wenn sie Hannas Leistungen preist, und Leonie hat dann das Gefühl, daß die junge Frau derartige Lobeshymnen über sie niemals verbreiten würde. Dennoch imponieren Leonie Hannas Lebensumstände und ihre stille Art. Dabei ist sie nicht sicher, ob sie sich viel zu sagen haben. Besonders Hannas ungeschminktes Gesicht, die zahnfördernde Bernsteinkette um Mattis’ Hals und ihre Kollektion von Baumwollbeuteln, bedruckt mit den Logos verschiedener Naturkostläden, machen sie mißtrauisch.
»Hat es schon angefangen? Wo sind die anderen?« Mattis springt aus beträchtlicher Höhe auf die Erde, breitet die Arme unter dem schwarzen Umhang aus und saust um Leonie herum. Der Stoff weht hinter ihm her wie ein seidiger Riesenflügel, während der Junge hohe Pfeiftöne ausstößt. Für einen Augenblick glaubt Leonie ihm den Vampir, blutrünstig, schnell, den kleinen Unterkiefer mit den eckigen Zähnen zu einer tierartigen Grimasse vorgeschoben. Mehr als alle anderen Kinder, die sie heute hier gesehen hat, lebt er in seiner Verkleidung. Eine Geste reiht sichan die nächste, bis sein gesamter Bewegungsablauf, der Ausdruck des Gesichts, die kreischende Stimme sich dem Kostüm angepaßt haben. Schließlich bleibt er schwer atmend stehen und greift in die Hosentasche, holt ein Plastikgebiß hervor, das er geschickt auf die Vorderzähne steckt. Er ist mager, seine braunen Augen liegen tief in den Höhlen und sind von violetten Ringen umgeben. Er sieht seiner Mutter sehr ähnlich, das Kindergesicht ist noch nicht so stark auf Männlichkeit festgelegt. Mattis zieht an Hannas Ponchofransen. »Ich geh rein, ich weiß wo die Tür ist, ich hab keine Angst, ich bin Dracula, der gefährliche Vampir!« Er stürzt zum Haus, macht dann aber kehrt, weil seine Mutter ihn ruft. »Mattis, die Zähne bitte.« Sie streckt die Hand aus, eine weißhäutige, weiche Hand mit Grübchen dort, wo bei Leonie die Knöchel hart hochragen. Mattis schüttelt den Kopf und stampft mit beiden Füßen auf: »Nein, ich will nicht. Ohne Zähne bin ich kein Vampir!« Hanna spricht leise und bestimmt: »Wenn du mir die Zähne nicht gibst, wirst du sie da drinnen verlieren. Dann sind sie weg. Gib sie mir, ich passe auf sie auf.« Mattis’ Augen sind feucht geworden. Er schluckt heftig, dann holt er das Gebiß heraus und schleudert es seiner Mutter entgegen. Ein langer Speichelfaden hängt daran und tropft auf
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